Ralph Ardnassak
Der Zornige: Werdung eines Terroristen
Drittes Buch: Die Entfesselung
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Inhaltsverzeichnis
Titel Ralph Ardnassak Der Zornige: Werdung eines Terroristen Drittes Buch: Die Entfesselung Dieses ebook wurde erstellt bei
1 1 Entweder Schwein oder Mensch (Holger Meins, 31.10.1974) …der Terrorist besetzt das Denken, da er den Raum nicht nehmen kann. (Franz Wördemann) Der Rechtsstaat hat sich zu einer Wand entwickelt, gegen die die Menschen laufen, ohne sich wehren zu können. (Norbert Blüm)
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Impressum neobooks
Entweder Schwein oder Mensch
(Holger Meins, 31.10.1974)
…der Terrorist besetzt das Denken, da er den Raum nicht nehmen kann.
(Franz Wördemann)
Der Rechtsstaat hat sich zu einer Wand entwickelt, gegen die die Menschen laufen, ohne sich wehren zu können.
(Norbert Blüm)
Auf dem Flur unserer Station, im Wartebereich, wo es Stühle gab und Werbeprospekte und einen Kaffeeautomaten und einen Wasserkocher für Tee, saß eine ältere Dame mit ihrer Tochter und die Tochter hielt eine unserer Broschüren in der Hand.
„Ich habe Angst, Mama!“, sagte die Tochter plötzlich unvermittelt: „Nur, wer mindestens 2.500 Euro monatlich verdient, kann ausreichend für sein Alter vorsorgen! Ich verdiene doch nur 1.200 Euro brutto und was soll dann aus mir werden? Ich habe Angst, Mama!“
„Ach, Gottchen, Kind!“, sagte die Mutter und es klang ausgebrannt und resigniert: „Bis Du einmal Rente bekommst, fließt noch so viel Wasser den Strom hinunter! Das wird schon irgendwie werden!“
Ich sortierte die schmutzige Bettwäsche derjenigen Kranken in den Wäschesack, die entlassen oder verlegt worden waren. Ich hätte dem Kind gern geantwortet, ihm mitgeteilt, was ich darüber dachte und was meine Frau längst nicht mehr hören wollte, weil sie es als Schwarzmalerei abtat, weil es nicht in ihre vor Optimismus und Zuversicht strotzende Welt passte!
Ich war nämlich der Ansicht, dass es in naher Zukunft überhaupt keine gesetzlichen Renten mehr geben würde, ganz gleich, wie viel die Bürger während ihrer Berufstätigkeit, sofern man sie denn überhaupt noch irgendwo gegen Bezahlung arbeiten ließ, in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt hatten.
Die gutbürgerliche Gesellschaft, wie sie in den Nachkriegsjahren und in der Zeit des Kalten Krieges, da die Welt in zwei konträre Gesellschaftsentwürfe geteilt gewesen war, sie war unwiderruflich tot. Mit den Ereignissen der Jahre 1989 und 1990 hatte man sie im Grunde überall auf der Welt zu Grabe getragen.
Chancen auf gesellschaftlichen Aufstieg durch Bildungserwerb und durch harte Arbeit gab es seither nicht mehr. Zugeständnisse an den kleinen Mann, der in der Fabrik am Fließband stand, mussten nun nicht mehr gemacht werden und man konnte sogar dazu über gehen, alle früher einmal gemachten Zugeständnisse wieder rückgängig zu machen.
Vergangen waren die Tage, da es Werte wie Anstand, Treu, Bescheidenheit oder Zuverlässigkeit gegeben hatte. Vorbei waren die Tage, da man sein Leben unbeschwert leben und seine Zukunft planen konnte. Vergangen waren die Jahre, in denen ein Dieb auch ein Dieb genannt werden dufte; in denen ein Bestohlener vor Gericht darauf hoffen durfte, Gerechtigkeit zu erfahren.
All die viel und immer wieder in den vergangenen Jahrzehnten beschworenen sogenannten bürgerlichen Werte und Kulturtraditionen, die friedlichen Revolutionen der Wendezeit überall in Europa hatten nicht nur den Kommunismus, sondern auch sie hinweg gefegt, wie die Winterstürme die welken Blätter.
Ehre, Sauberkeit, Aufrichtigkeit, dies waren antike und alberne Tugenden, die von den modernen Eliten belächelt wurden. Es waren die lästigen Märchen der Kindertage, mit denen man nun auch ganz offen brechen konnte, da auch ganz offiziell die Formel ausgerufen worden war, wonach jeder sich selbst am nächsten stand!
Auf den Staat zu hoffen und auf die Menschen und ihren Anstand, war dabei jedoch ein Trugschluss. Auch 1933 hatten viele Menschen gedacht, es werde schon nicht so schlimm kommen und sie hatten auf den Staat gehofft und auf die Anständigkeit all der Leute.
Der Staat aber hatte letztendlich das ganze Grauen selbst produziert und Erschaffen, den Holocaust und den Krieg und Auschwitz und all das Andere. Und die anständigen Leute hatten sich flugs die schwarze SS-Uniform angezogen, mit dem silbern glänzenden Totenkopfemblem an der Schirmmütze und sie hatten ganz kräftig bei all diesen schrecklichen Dingen mitgemischt, nur hinterher wollten sie von alledem nichts gewusst haben und waren wieder damit durchgekommen.
Auf den Staat zu hoffen, war also töricht und auf die sogenannten Eliten zu hoffen, war es ebenso! Beide hatten sie ihre eigenen Interessen, der Staat und die Eliten und beide waren sie längst viel zu eng miteinander verquickt.
Der Staat Bundesrepublik Deutschland war nicht dazu angetan, dem kleinen Mann auf der Straße zu seinem Glück zu verhelfen und seine kleine und mühselig errichtete Lebenswelt zu bewahren. Er verhalf nur noch den Reichen zu ihrem Glück und hatte sich die Bewahrung von deren Reichtümern auf die Fahnen geschrieben!
Es war eine Falle gewesen, die die Eliten des Westens dem kleinen Mann, der in Volkseigenen Betrieben schuftete, in all en Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg gestellt hatten. Eine Falle, deren gnadenloser eiserner Bügel, der 1989 im Herbst zugeschnappt war und dem Volke das Bein zertrümmert hatte, mit dem Honig aus DM und angeblicher Freiheit und Demokratie und Wohlstand beschmiert worden war. Nun aber war die Falle zugeschnappt und der kleine Arbeiter, einst mit lebenslanger Beschäftigungsgarantie in einem maroden volkseigenen Betrieb gesegnet, saß arbeits- und nicht selten auch obdachlos mit gebrochenen Knochen in der eisernen Falle, aus der es nun kein Entrinnen mehr gab.
Freiheit hatte man ihm vollmundig versprochen und Freiheit tönten noch immer die Medien, wie eine alte und längst ausgeleierte Gebetsmühle, die sich inzwischen selbst langweilte und an ihrer eigenen Monotonie erstickte.
Der polnische Gewerkschaftsführer Walesa hatte es einst auf den Punkt gebracht: Freiheit ohne Geld im Beutel ist keine Freiheit!
Und wie frei war er am Ende, der Arbeiter in der Bundesrepublik, der seine Abmahnung bekam, wenn er morgens auch nur eine einzige Minute zu spät die Stechuhr aufsuchte, weil vielleicht die Straßenbahn Verspätung gehabt hatte? Wie frei war er, der schwitzende und um seinen Job bangende Staubsaugervertreter, dem sein jähzorniger Vertriebsleiter die Tagesumsätze aufdiktierte, ganz egal, wie unrealistisch sie auch sein mochten? Wie frei war er, der kleine Angestellte, der sonntags vom Mittagstisch mit seiner Familie aufstehn und in den Betrieb fahren musste, weil der Chef angerufen hatte? Wie frei war er, der Arbeitslose, der Arbeitslosengeld I bezog und der sich unverzüglich auf dem Amt melden musste, wenn der Arbeitsvermittler nach ihm verlangte und von ihm forderte, die Bewerbungsschreiben vorzulegen, die er während der letzten vier Wochen verfasst und abgeschickt hatte? Wie frei war er wirklich, der Hartz-IV-Beziehende, der praktisch zum willfährigen Sklaven seines Jobcenters wurde, dessen überlastete und oft nicht ausreichend qualifizierte Mitarbeiter ihn im Grunde behandelten wie einen unversöhnlichen Feind und die ihm jederzeit und oft sogar ohne Nennung von Gründen sämtliche Bezüge streichen konnten? War dies alles Freiheit? War es dies alles etwa Wert gewesen, das relativ sorglose, graue, aber dafür sichere Leben, welches wir bis 1989 zu führen gewohnt waren, einfach und unwiderruflich wegzuwerfen?
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