Ralph Ardnassak - Wir lassen nur den Ort.

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Es heißt, ungefähr im Alter von 7 Jahren, begreift ein Kind, was es bedeutet, zu sterben. Damit beginnt die meist lebenslange Furcht der Menschen vor dem Tode, die eigentliche Ursache hinter all ihrem Tun darstellt: hinter Staatenbildung, hinter Gesetzgebung, hinter Kriegen, Politik, Wissenschaft, Religion und Ethik. Es gibt keine stärkere Triebkraft, als die Furcht vor dem Tode. Dabei ist diese Furcht nicht nur sinnlos, sondern zugleich unbegründet. Sie ist sinnlos, weil wir alle, Gott sei Dank, dem Tode ohnehin nicht entgehen werden und angesichts einer Tatsache, die zwangsläufig, gesetzmäßig, automatisch und ohne mein Zutun eintreten wird, brauche ich mich nicht zu fürchten. Ebenso wenig, wie vor dem Schmelzen des Schnees im Frühjahr oder vor dem Sonnenaufgang am Morgen. Sie ist unbegründet, weil der Tod nicht, wie allgemein seit alter Zeit in vielen Kulturen angenommen, das Ende aller Dinge und das Ende des Seins darstellt, sondern weil er tatsächlich nur eine Phase im Sein bildet, das sich nicht auf den winzigen Abschnitt reduzieren lässt, den wir gemeinhin das Leben nennen. Der Tod ist nur eine Pforte, die wir während unseres Seins durchschreiten, ein Unterwegsbahnhof, auf dem der Zug, in dem wir sitzen, gerade Halt macht und im Prozesse unseres Seins schon tausendmal Halt gemacht hat. Jedes Atom, das wir in uns tragen, hat den Tod einer belebten oder unbelebten Daseinsform, in die es eingebunden war, bereits tausende Male erlebt. In diesem Sinne sind wir bereits tausende von malen gestorben. Und unsere Atome und Moleküle werden sich im Moment unseres eigenen Todes daran erinnern, dass sie diese Erfahrung bereits viele Male durchlebt haben und dass sie keinesfalls das Ende allen Seins im Universum darstellt und auch nicht das Ende unserer selbst.

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Ralph Ardnassak

Wir lassen nur den Ort.

Ein Essay über den Tod

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Inhaltsverzeichnis Titel Ralph Ardnassak Wir lassen nur den Ort Ein Essay - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel Ralph Ardnassak Wir lassen nur den Ort. Ein Essay über den Tod Dieses ebook wurde erstellt bei

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

Impressum neobooks

I

Wenn wir aus dieser Welt durch Sterben uns begeben,

so lassen wir den Ort, wir lassen nicht das Leben.

Friedrich von Logau

Du stirbst. Du durchlebst diese Phase, ebenso, wie Du einst Deine Geburt durchlebt hast. Und zugleich ist es der letzte Teil Deines irdischen Daseins, den Du durchlebst und erlebst, bei dem Du Subjekt und Handelnder bist und nicht Objekt.

Wenn Du stirbst, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass dies in einem Krankenhaus geschieht, denn seit dem Fortschritt der sogenannten Apparatemedizin in den 1950er Jahren sterben fast 45 % aller Menschen in einem Krankenhaus und nicht daheim, in ihrer vertrauten Umgebung.

Der moderne Mensch hat den Tod aus seinem Leben verbannt. Er wünscht, möglichst nicht mit ihm in Berührung zu kommen, weil er ihm seine eigene Sterblichkeit vergegenwärtigt und die Tatsache, dass Menschen nicht immer gewinnen, nicht immer Erfolg haben können.

Du stirbst daher mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem Krankenhaus, umgeben von Pflegepersonal, denn die Ärzte ziehen sich üblicherweise zurück. Und wenn Du Glück hast, dann ist dieses Pflegepersonal, das sich um Dich kümmert, während Du stirbst, nicht gerade von Überstunden überlastet und spricht vielleicht sogar Deutsch.

Du stirbst.

Zunächst wird sich Deine Hirnaktivität verringern, was dazu führen wird, dass Deine Wahrnehmung zurück geht. Dieses ist der erste Schritt auf Deinem letzten Weg, den Du nun angetreten bist. Wie alles im Leben, so hat auch diese Verringerung der Wahrnehmung Deines sterbenden Hirns ihren Sinn und ihre Berechtigung. Es bleibt Dir manches von den Umständen Deines Endes erspart, durch die verringerte Aktivität Deines Hirns.

Deine Sensibilität für Schmerzen geht zurück und wenn Du zu Hause stirbst, was immerhin noch 25 bis 30 % aller Menschen tun, so wirst Du es vielleicht nicht bemerken, wenn Dir Urin ab geht oder Kot.

Nah und nach wird Deine Atmung flacher. Dies zieht eine Vielzahl von Konsequenzen nach sich, die sich in den Zellen Deines Körpers abspielen, denn der Gasaustausch nimmt ab.

Während Deine Atmung immer flacher wird, nimmt Dein Sehvermögen ab. Es heißt, Du bekommst einen Tunnelblick.

Dann setzt ein Großteil Deiner Fähigkeit aus, zu hören. Akustisch nimmst Du nur noch teilweise war, was um Dich herum vorgeht. Hörst vielleicht das Schluchzen von Angehörigen, das Wispern von Pflegern und Schwestern oder das Schlagen von Türen auf den Fluren des Krankenhauses.

Nun geht Deine Sehfähigkeit völlig und für immer verloren. Die Lampen im abgedunkelten Zimmer, in das sie Dich gebracht haben, verlöschen für immer.

Dein Herz beginnt zu flimmern. Müde bäumt es sich noch einmal auf, ehe der Herzstillstand eintritt. Die Linie des Gerätes, welches Deine Pulskurve anzeigt, ist flach.

Steht Dein Herz still, dann tritt innerhalb von nur wenigen Minuten jener Zustand ein, denn man Hirntod nennt.

Haben Herzstillstand und Hirntod erst eingesetzt, dann bist Du aus biologischer und medizinischer Sicht tot. Du bist nicht mehr am Leben. Die Sorgen und Nöte Deines irdischen Daseins, wie gravierend sie auch gewesen sein mögen, hast Du hinter Dir gelassen.

Mit Herzstillstand und Hirntod setzen nun jene Prozesse in dem Körper ein, den Du hinterlassen hast, die sich Autolyse oder Selbstzersetzung nennen und die darin gipfeln, Deinen Körper in seine Elemente zu zerlegen.

Da mit der Atmung und dem Herzschlag der Stoffwechsel in Deinem toten Körper ausgesetzt hat, da nun weder Sauerstoff, noch Nährstoffe, zu Deinen hungrigen Zellen transportiert werden, sterben die Zellen Deines toten Körpers ab.

Die empfindlichen Neuronen, die Zellen Deines Gehirns, sie eröffnen das Sterben Deiner Zellen.

Bereits zehn Minuten nach Deinem Hirntod beginnen viele Zellen im Gewebe Deines Herzens, abzusterben.

Nun folgt der Tod all Deiner Leberzellen und der Zellstrukturen in Deiner Lunge.

Etwa eine Stunde später hören die Zellen Deiner Nieren auf, zu funktionieren. Nun sterben auch sie und schließlich alle anderen Zellen.

Könntest Du Dich von außen betrachten, so würdest Du feststellen, dass Du immer mehr Deiner Organfunktionen verlierst, denn genau dies macht, biologisch gesehen, Dein Sterben aus.

Eine knappe halbe Stunde nach Eintritt Deines Herzstillstandes bilden sich unter Deiner Haut die Totenflecken, die man als sichere Zeichen des Todes bezeichnet.

Dein Blut sackt in tiefere Regionen Deines toten Körpers ab und beginnt, ihn dort zu verfärben.

Deine Körpertemperatur sinkt ab. Wenn Du Flöhe oder Läuse hattest, so verlassen diese nun Deinen erkaltenden Körper, als wären sie Ratten, die erkannt haben, dass das Schiff unrettbar sinken wird, auf dem sie sich befinden.

Ungefähr zwei Stunden nach Deinem Herzstillstand setzt der Rigor mortus ein, die Totenstarre.

Während Du lebtest, glitten die Eiweiße Deines Körpers durch die unablässige Bewegung Deiner Muskeln aneinander vorbei. Nun aber bilden sie nach und nach ein starres Netz, welches für die Totenstarre verantwortlich ist.

Jedes einzelne Deiner Organe stirbt unwiderruflich und irreversibel ab, zu einem jeweils individuellen Zeitpunkt.

Damit hast Du Dein Leben beendet und hast dessen letzte Phase, das Sterben, absolviert.

Du bist tot.

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