Wieder sah er die Leiche vor sich und es schauderte ihn erneut. Er duschte lange. Sand und Salz hatten sich auf seine Haut gelegt – eine Schicht gebildet. Doch schlimmer war der Anblick. Den wollte er wegschrubben, wegspülen. Der blieb in seinen Gedanken haften. Was hatte die Frau gedacht, als jemand ihr Leben ausgelöscht hatte? Oder hatte sie nichts mehr gedacht, nur Schmerz und Angst gefühlt? Es war kein Unfall gewesen. Die Verletzungen, die er gesehen hatte, deuteten auf etwas anderes, auch wenn gerade er darin kein Experte war. Vielleicht war sie tatsächlich die Vermisste aus der Zeitung. Er erinnerte sich weder an den Namen noch an die Beschreibung. Und nun? Die Gegend erkunden? Ausfahren? Trainieren? Nein, das ging nicht. Seine Maschine war nicht hier. Er wusste nicht wie es kam, dass er hier war, warum er hier war. Er war eingeladen. Die Rechnung ging auf den, der einlud. Aber er konnte sich keinen Reim auf nichts machen und es zeigte sich keiner, der sich zu erkennen gab. Er trocknete sich ab. Im Grunde war er ein Idiot. Er ließ sich auf alles ein, selbst wenn er nicht wusste, worauf. Neugierig war er schon immer gewesen.
Vielleicht stand morgen etwas über die Tote in der Zeitung. Er sah ihr Gesicht vor sich. Ihre Augen ließen ihn nicht los. Warum war ihr das angetan worden? Ach, was ging es ihn an. Natürlich hatte er es melden müssen. Wer weiß, wer sonst noch darüber gestolpert wäre. Aber an sich vermied er Kontakte mit den Behörden, wenn es möglich war. Sie mochten ihn nicht und er sie noch weniger.
Sein Aufenthalt hier. Seines Wissens hatte er an keinem Wettbewerb teilgenommen, nirgends an einer Ausstellung für Motorräder einen Wisch ausgefüllt. Ab und zu schickte ihn der Chef zu einer Messe, weil er sich auskannte, Kontakte hatte und gut verkaufen konnte. In diesen Kreisen kam Fachwissen gut an und das besaß er. Aber ihm war nichts bewusst. Und unter Gedächtnisschwund litt er bisher nicht. Neugierig war er angerückt, hatte sich eingelebt, auf den Putz gehauen, einige genervt und hatte nirgends etwas Bekanntes oder Verdächtiges wahrgenommen. Keine Hinweise. Nichts. Wurde er beobachtet? Die Leiche. Davon war in der Einladung keine Rede gewesen. Er grinste. Ein Kriminalspiel, in dem er mitwirken sollte und die Leiche nicht echt? Er sah sich um. Versteckte Kamera? Filmteam irgendwo? Verstecktes Mikrofon oder seltsame Gestalten? Alles ein Spiel? Nichts deutete darauf hin. Mist! Das hätte ihm Spaß gemacht. Aber die Leiche war echt. Spiel konnte das nicht sein. Oder der Fund heute Morgen gehörte nicht dazu. In was war er geraten?
„Hey Du, Unbekannter. Nicht mit mir. Ich bin kein Schaf, das sich abschlachten oder irgendwo hin dirigieren lässt. Sieh dich vor. Wer es mit Chip zu tun bekommt, wenn er sauer ist, der hat schlechte Karten.“
Er reckte sein Kinn kämpferisch vor, nahm Kampfhaltung ein und schaute grimmig in alle Richtungen. „Wo bist du? Zeig dich! Was bezweckst du?“ Er vollführte einige Karate Kicks und Drehungen „Schau her und pass auf!“
Auf einmal schepperte es. Eine große Vase war zu Bruch gegangen. Er schob die Teile kurzerhand unter das größte Möbel und wischte die Pfütze auf, die entstanden war. Die Blumen stellte er in ein anderes Gefäß und dieses wieder dorthin, wo zuvor die Vase gestanden war. Er hatte keine Lust zu beichten. Jetzt nicht. Die Putzfrau fand es, wenn sie ihre Arbeit richtig erledigte. Wenn nicht, war sie schlampig. Und was sie über ihn dachte, war ihm egal. Beinah hätte er sich umgesehen, ob ihn jemand beobachtet hatte, dabei war er hier doch in seinem Zimmer. Wer hätte das nun sein sollen? Also litt er an Verfolgungswahn. Das konnte heiter werden. Marie hatte ihn durchschaut. Sie meinte sowieso ihn zu kennen und alles zu wissen. Wie sie sich aufgespielt hatte! So etwas hatte er gerade nötig!
Heute Morgen hatte er seinen Körper gespürt, seine Muskeln. „Ich bin in Form. Also überlege dir gut, was du tust!“
Wenn ihn einer so hörte und sah, dachte er mit Recht, er sei ein Verrückter und aus einer Anstalt ausgebrochen. Er lachte. Vielleicht war er endgültig Gaga geworden oder war es schon immer gewesen.
Fabien kramte ein Buch aus seiner Tasche und ging damit nach unten, suchte sich einen Platz auf der Terrasse neben dem Bad, stellte eine Liege hin, wo es ihm gefiel. Er verschob einen Sonnenschirm so, dass es ihm passte, so dass er gut lesen konnte und ihm die Sonne nicht in die Augen schien, achtete weder auf ärgerliche Blicke, noch auf Proteste. Er nahm sich, was er brauchte, und machte es sich mit dem Buch gemütlich. Er hatte Faulenzen und Lesen als seine heutige Tätigkeit gewählt.
Er sah Marie vorbei gehen, die ihn keines Blickes würdigte. Damit war er zufrieden. Es hatte gewirkt. So wollte er es haben. Gut. Hm? Ja? Klar war es gut. Er sah ihr nach. Verflixt, sie sah nicht nur gut aus. Die Frau war schön. Gleich verscheuchte er diese Gedanken. Er entspannte sich, vertiefte sich in das Buch und genoss den Tag.
Etwas später musste er feststellen, dass er sich in einem Punkt verkalkuliert hatte. Er las eine Stelle im Buch, wo sich ein gehegter Verdacht in einem spannenden Fall erhärtete. Gespannt las er die Szene. Es war selten, dass er solche Bücher las. Sonst waren es Fachbücher oder Zeitschriften, aus denen er lernen oder sich informieren konnte. Aber für seinen Urlaub hatte er sich ein paar Romane besorgt.
An dieser spannenden Stelle, die eines der Rätsel auflöste, traf ihn ein starker Wasserstrahl, der ihm das Buch aus den Händen riss. Er ging mit zu Boden, versuchte aufzustehen, was bei der Kraft des Wasserstrahls nicht einfach war. Kalt war es! Brrrr! Endlich konnte er sich befreien und rannte in die Richtung, wo es hergekommen war. Natürlich war derjenige, der ihn brutal im Visier gehabt hatte, verschwunden. Der Schlauch lag harmlos da, als wäre nichts gewesen. Frechheit! Er sah sich um. Marie war nirgends zu sehen. Dieses Weibsstück! Bestimmt war sie das gewesen. Na die sollte ihm unterkommen! Was bildete die sich bloß ein!
Er ging zurück, stellte die Liege auf, den Sonnenschirm, der in Schieflage geraten war. Alles triefte. Die Kleider trockneten. Das war nicht das Problem. Er las alles zusammen. Das Buch löste sich in seine Bestandteile auf, denn es hatte das meiste abbekommen. Das konnte er weg werfen. Er schmetterte es zu Boden. „Merde! Da lese ich einmal so etwas. Und nun das! Wie geht der Mist aus! Merde! Merde! Diese Kuh, diese ...“
Er wusste, dass er zu laut war. Er brüllte herum. Einige Blicke waren entsprechend. Die konnten ihn mal! Er hatte genug von der Menschheit und zog sich in sein Zimmer zurück. Er mochte keinen sehen - war stinksauer. Er wunderte sich darüber. Normalerweise nahm er so etwas lockerer oder dachte sich einen Gegenschlag aus. Er verstand Spaß, aber nicht bei der! Er war so geladen, dass es besser war, dass ihm keiner begegnete, um Mord und Totschlag zu verhindern.
Den Fernseher schaltete er laut ein, so laut es ging, warf sein nasses Zeug ins Bad, trocknete sich, rubbelte die Haare, damit sie nicht mehr tropften, ordnete sie so gut das ging mit seinen Fingern, warf sich aufs Bett, zappte herum, war unzufrieden, sauer und wusste nichts mit sich anzufangen. Im Grunde hasste er es, wenn er so war. Das steuerte oft einer Katastrophe zu, bei der allerdings immer er den Kürzeren zog. Wie ein unumstößliches Gesetz. Das Leben war für ihn Merde! Er mochte weder hier liegen noch sitzen, noch jemanden sehen.
Es klopfte. Nein, das fehlte ihm gerade noch. „Hau ab!“ Es war ihm egal, wer draußen stand. Es klopfte wieder. Hartnäckig auch noch. Entnervt stand er auf, holte ein Tuch aus dem Bad und schlang es sich um die Hüften. Er öffnete und sein Ärger wuchs. „Was willst du? Du hast Nerven, hier zu erscheinen!“
Marie stand da – unbeeindruckt von seiner Laune – und streckte ihm etwas entgegen. „War es dieses Buch?“
Читать дальше