Die Wintrich warf Claudia einen misstrauischen Blick zu – verdächtigte sie sie, dann eben krank zu werden, um die Aufsicht nicht machen zu müssen?
„Ich kenn die doch gar nicht!“, jammerte Claudia jetzt.
„Ist doch egal“, fand Maja. „Wozu musst du sie kennen? Wenn du einen Spickfratz beim Namen nennen willst, guckst du halt, was er auf sein Blatt geschrieben hat. Oder gehst hin und fragst, ob er sofort abgeben möchte.“
„Wa-as?“
„Stimmt“, sagte die Wintrich. „Ach ja, Frau Körner – haben Sie sich schon Gedanken über den schulinternen Mathetest gemacht? Sie hatten die siebten Klassen übernommen, wenn ich mich recht erinnere?“
Mist.
„Gedanken schon“, log Maja also (hoffentlich einigermaßen überzeugend), „aber ich hab den Schmierzettel zu Hause und jetzt leider gar nichts präsent. Soll ich ihn morgen mal mitbringen?“ Die Wintrich lächelte. So sah sie richtig nett aus, fand Maja plötzlich. „Das wäre toll, danke.“
Ganz klasse, ärgerte sie sich hinterher. Sie musste heute die dämliche Schulaufgabe fertig machen, kam nicht vor halb fünf nach Hause und hatte jetzt noch diesen Test am Bein, über den sie sich dringend „Gedanken machen“ sollte. Wann sollte man in diesem Beruf eigentlich mal schlafen? Oder Wäsche waschen, putzen, sich Regale kaufen, was essen oder Gott behüte einen Krimi lesen? Oder bloß Nachrichten gucken, wie es sich für einen braven Staatsbeamten geziemte?
Harter Abend.
Aber eigentlich hatte sie ja auch noch drei Freistunden – zwei, sieben, acht. Vielleicht ging da ja was. Wenigstens so weit, dass sie den Mist zu Hause bloß noch zu tippen brauchte? Jetzt war aber erst einmal Unterricht angesagt.
Sie betrat das Klassenzimmer so schwungvoll, dass die Schüler sie ganz erschrocken ansahen. „Schreiben wir ein Ex??“
„Was? Nein, wieso?“
„Sie schauen heute so energisch…“
Maja grinste in die Runde. „Tut mir Leid. Aber bestimmt bald mal, versprochen!“
„Och“, machte Tom in der ersten Reihe, „muss eigentlich nicht sein. Machen Sie sich bloß keinen Stress.“
„Für euch tu ich das doch gerne“, gab Maja zurück. „So, und wie sind die Hausaufgaben gelaufen?“
Allgemeines Gejammer und jede Menge blöde Ausreden. Sie notierte sich heute tatsächlich, wer schon wieder nichts gemacht hatte, und besprach dann mit den paar Leuten, die tatsächlich die Nullstellen der Parabeln bestimmt hatten, die Lösungen. Es folgten die Wiederholung von Scheitelform und des Satzes von Viëta. Sie wollte gerade noch auf Funktionen der dritten Potenz eingehen, als es läutete. Also gab sie rasch noch einige Aufgaben zur Scheitelform auf und wünschte einen schönen Tag.
Komisch, dachte sie auf dem Weg ins Lehrerzimmer, heute war es viel besser gelaufen. Warum bloß? War das das Negativbeispiel von Claudia Merz? So ein Jammerlappen wollte sie wirklich nicht sein – überfordert mit drei Stunden!
Vielleicht war´s das wirklich. Das Lächeln der Wintrich konnte ja wohl kaum so eine Wirkung haben, oder?
An ihrem Platz angekommen, schlug sie das Mathebuch der siebten auf und suchte sich die Hauptkapitel aus. Aufgaben dazu waren schnell gefunden, dazu noch ein paar Details zum Grundwissen aus der Sechsten – Prozente und Brüche. Bis es zur kleinen Pause läutete, hatte sie einen ganz praktikablen Entwurf geschafft und war ausgesprochen zufrieden mit sich. Warum war sie nicht immer so effizient?
In der dritten Stunde hatte sie Sprechstunde, aber glücklicherweise kam niemand – sie hatte nämlich die Mappe mit den aktuellen Notenlisten zu Hause vergessen. Das musste auch besser werden!
Immerhin verlief die Klausuraufsicht so reibungslos wie die Stunde im Geo-Kurs der Q 12 – abgesehen davon, dass der Kurs recht geschrumpft wirkte. Maja schrieb sich diejenigen auf, die fehlten: Vermutlich mussten sie sich im Café gegenüber von der G/Sk-Klausur erholen. Ihrem finsteren Blick begegneten die paar Anwesenden mit heiter-ausdruckloser Miene.
So, jetzt wieder zwei Freistunden! Maja wühlte in ihrer Tasche herum, förderte die beiden Croissants zutage, aß sie auf, woraufhin sie ihr wie ein Stein im Magen lagen, und kramte weiter. Ach – ein USB-Stick? Was war denn eigentlich drauf? Nebenan war auch einer der Computerarbeitsplätze frei, also fuhr sie den Rechner hoch und steckte den Stick ein.
Lauter Mist. Und nichts aufgeräumt!
Sie verbrachte eine Viertelstunde damit, einige Ordner einzurichten, die brauchbaren Dateien dahin zu verschieben und den Rest zu löschen, dann tippte sie den Entwurf für den schulinternen Jahrgangsstufentest, las ihn Korrektur, druckte ihn zweimal aus, speicherte ab und loggte sich wieder aus.
Heute war sie richtig gut, fand sie.
Ein Exemplar steckte sie in eine ihrer Mappen (hoffentlich konnte sie sich merken, in welche!), das andere in das Fach der Wintrich. Zu Hause konnte sie ihr das Ding ja auch noch als E-Mail-Anhang schicken. So merkte doch keiner, dass sie überhaupt erst heute damit angefangen hatte?
Jetzt hatte sie immer noch eine Stunde Zeit – was tun? Megacities, fiel ihr ein. Sie lochte die Fettfleckkopien und überlegte dann, was sie noch tun konnte. Vielleicht reichte der Text nicht die ganze Zeit, dann konnten die Seminarleute doch vielleicht im Internet recherchieren. War denn ein Computerraum frei?
Als sie im Hauptraum nachsah, kam ihr Wintrichs Schätzchen entgegen, ein bildschöner Mann, so schön, dass sie ihm mit offenem Mund entgegenstarrte.
„Hallo“, sagte der vergnügt, „ist Luise hier irgendwo?“
„Luise?“, echote Maja dümmlich. „Keine Ahnung, tut mir Leid. Ist sie nicht in ihrem Büro?“
„Ach, ich schau schnell selbst nach, danke.“
Er trat an den großen Stundenplan und Maja ärgerte sich über sich selbst. Wie konnte man so tölpelhaft sein! Ich hab eine Wassermelone getragen , murmelte sie vor sich hin. „Was?“, fragte die Suttner, die neben ihr aufgetaucht war.
„Ach, nichts“, wehrte Maja unwirsch ab.
„Hi, Christoph!“, wandte sich die Suttner sofort wieder ab. „Luise ist beim Chef, aber sie kommt gleich.“
Lächelnd war er womöglich noch entzückender. Maja sah schnell nach, ob der Computerraum in der zehnten Stunde frei war – er war´s – und verschwand dann wieder im Rechnerraum. Die Wintrich hatte vielleicht ein Schwein… Aber sie sah ja auch auf ihre kalte Art gut aus und war ekelerregend perfekt. Dazu passte er auf jeden Fall.
Wintrich, Suttner, Herzberger: Maja hasste sie alle drei – schön, schlank, erfolgreich, gut organisiert – die vergaßen nichts, die konnten alles, denen gehorchte jeder und der Chef fraß ihnen aus der Hand. Wahrscheinlich hatten sie zu Hause auch noch toll aufgeräumt, ihr Auto gewaschen und alle Klamotten gebügelt.
An ihren Kleiderschrank wollte Maja lieber nicht denken – von ihrem zusammengebrochenen sechzehn Jahre alten Polo mal ganz zu schweigen. Der war überhaupt der Grund, warum sie es noch nicht zu neuen Möbeln gebracht hatte, fiel ihr ein. Und bevor sie Möbel oder gar ein Auto kaufen konnte, musste sie erst einmal ihr Konto inspizieren. Und bevor sie das tun konnte, musste sie erst einmal nachsehen, welche PIN sie fürs Online-Banking hatte.
Schade, hier hätte sie prima ihre Bankgeschäfte erledigen können – wenn sie diese blöde PIN gewusst hätte! Sie war eben doch eine Chaotin…
In Ermangelung einer besseren Tätigkeit packte sie ihre Tasche komplett aus, sammelte alle verknüllten Kassenzettel, Büroklammern und Staubflusen ein und kippte alles in den Papierkorb bzw. in den großen Büroklammerntopf auf dem Mitteltisch. Dann sah sie ihre Mappen durch und warf veraltete Kopien weg. Zufrieden packte sie danach die geringfügig schlankeren Mappen wieder ein, schraubte die Kappen auf die Folienstifte, erneuerte die Kreide in der kleinen Blechdose und wischte mit einem Taschentuch das verstaubte schwarze Nylon wieder blank.
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