Mürrisch sah sie sich um. Das Arbeitszimmer war das reinste Chaos. Kunststück, wann hätte sie es denn herrichten sollen? Seit dem ersten Schultag war sie nur am Rödeln wie ein Hamster im Rad!
Na, meistens jedenfalls. In den Ferien hatte sie sich erst einmal ordentlich ausschlafen müssen. Und gegen den Fernsehentzug ankämpfen. Und diese wüsten Krimis lesen, bei denen der Kommissar in jedem Band mit einer anderen Verdächtigen ins Bett stieg… war das nicht eigentlich verboten? Konnte ihr aber auch egal sein.
Aber das Arbeitszimmer war einfach schrecklich. Onkel Karl-Heinz war offensichtlich farbenblind gewesen – beige Struktur mit braunen und grünen Schlieren, als hätte jemand Gemüsepampe an die Wände geschmiert!
Davor stand ihr wackliges Regal aus München, dem der Umzug überhaupt nicht bekommen war. Ja, wenn sie das Stützkreuz wieder gefunden hätte! Die Fächer waren bis obenhin vollgestopft mit Ordnern, dem Krempel aus dem Referendariat, losen Zetteln, Schulbüchern, Stiften, CDs, USB-Sticks, diversen Krimis, die hier eigentlich nichts zu suchen hatten… und alles, was nicht mehr ins Regal gepasst hatte, türmte sich auf den beiden Umzugskisten daneben.
Wahrscheinlich war in den Kisten lauter total wichtiges Zeug, aber wie sollte sie das feststellen? Wenn sie die Kisten auspackte, lag hier noch mehr herum und die Unordnung wurde bloß noch größer. Verdammt, es sah ja überall so aus! Im Kleiderschrank stapelten sich die Klamotten, von denen allerdings ein guter Teil teuflisch eng saß. Eigentlich trug sie immer die gleichen paar Sachen… Hatte die Wintrich sie heute etwas befremdet gemustert? Bloß weil sie dieses Sweatshirt zum dritten Mal getragen hatte? Hätte sie sich ein Schild umhängen sollen „Ich hab aber ein frisches T-Shirt drunter“?
Die Wintrich nervte sowieso. Wie konnte man so perfekt sein? Bei fast einsachtzig wog die bestimmt bloß sechzig Kilo. Immer in Bleistiftröcken oder schmalen Hosen, immer in schicken Blazern, darunter bessere T-Shirts oder Blusen, immer in schönen geputzten Schuhen, immer ordentlich frisiert und dezent geschminkt… und die Schüler beteten sie an und hatten auch ein kleines bisschen Angst vor ihr – beneidenswert. Außerdem war die Frau kaum über dreißig und saß schon in der Schulleitung… ob die was mit dem Chef hatte?
Aber da gab´s ja auch diesen Schönling, der sie freitags abholte und offenbar bei der Konkurrenz in Mönchberg arbeitete… nein. Sie konnte die Wintrich zwar so wenig leiden wie die Suttner oder die Herzberger (diese Bande von Streberinnen!), aber integer war sie bestimmt. Und mit dem Chef hatte keine was, für so etwas hatte sie eigentlich einen ganz guten Blick.
Die Suttner hatte sie heute auch noch angeschnauzt. Bloß weil sie diese Liste nicht fristgerecht abgegeben hatte! Gut, sie hatte auch noch ein paar andere schwach angeredet – aber die hatten daraufhin betreten die Listen zutage gefördert und ihr in die Hand gedrückt – und sie selbst? Sie fand das blöde Ding eben nicht mehr, was sollte man denn da machen!
„Himmel, sag´s halt gleich, dann kriegst du einfach eine neue! Glaubst du, Totstellen hilft? Ich hab auch schon was verloren, dann besorgt man sich das Ding eben nochmal!“ Und dazu ein Blick, als sei Maja noch in der Unterstufe.
Ganz Unrecht hatte sie da leider nicht.
So konnte es nicht weiter gehen.
Die einzige, die genauso hilflos strampelte wie sie, war Claudia Merz, die Neue mit Deutsch und Geschichte. Und über die hatten sich am Freitag die Herzberger und die Suttner in Majas Hörweite unterhalten und gesagt: „Die Frau ist nicht überlastet, die ist einfach miserabel organisiert.“
Traf das auf sie auch zu? Musste sie sich auch besser organisieren?
Wahrscheinlich ja. Verdammt, jetzt war es zehn nach acht – und saß hier und tat sich ziellos leid. So wurde das doch nie was.
Auf zur zweiten Aufgabe! Was hatte sie gewollt? Den Schnittpunkt der beiden Geraden. Ansatz, zwei Rechenschritte, Ergebnis, Punkt in der Skizze markieren – nein, in der Angabe gab es sechs Bewertungseinheiten, also drei Rechenschritte. Gut, dann los. Fünf Stück, danach einen Hauch Aufräumen!
Die fünf gingen so schnell, dass Maja gleich noch zwei anhängte. Prima, das erste Viertel! Und jetzt?
Sie brauchte eine anständige Regalwand, aber nicht heute. Und weiß gestrichene Wände, aber nicht heute. Sie sah sich sinnend um. Die einzige tadellose Stellfläche war das tiefe Fensterbrett aus hellbraunem Travertin. Tief genug, um die Fenster zu kippen und trotzdem Bücher in zwei Reihen davor aufzustapeln.
Also klappte sie die erste Kiste auf und guckte hinein. Ach – weitere Schulbücher? Sie nahm sie heraus und sortierte sie nach „total unwichtig“ und „weniger wichtig“ in zwei Stapel hintereinander. Danach mehrere Ordner – die Protokolle von Schulrecht, Schulpsychologie und Staatsbürgerkunde, zweimal Uni-Vorlesungen, dreimal Uni-Übungen… das war wirklich etwas für die zweite Reihe! Sie stellte die Ordner an der gegenüberliegenden leeren Wand nebeneinander auf, holte alle anderen Ordner aus dem überquellenden Regal und platzierte sie daneben - und faltete schließlich die leere Kiste zusammen und warf sie in den Flur. Sah schon etwas besser aus, fand sie. Sie hatte riesige Lust, jetzt weiter zu machen, aber die Schulaufgabe war dringender.
Okay, die nächsten sieben!
Die dauerten auch nur eine Viertelstunde – jetzt war es neun. Sie öffnete die nächste Kiste und stöhnte auf. Kopien! Die Kopien für die erste und die zweite Zulassungsarbeit! Brauchte sie das denn jemals wieder? Sie hatte gar keine Lust, den Mist durchzusehen, ob davon noch irgendwas verwendbar war.
Bestimmt nicht. Beide Themen hatten mit dem aktuellen Lehrplan eher wenig zu tun – und wenn sie wirklich einmal darüber stolpern würde, dann hatte sie ja immer noch die Arbeiten selbst. Sie fand einen geeigneten Korb, zog die Heftstreifen aus den Kopien und legte alles umgekehrt in den Korb: Schmierpapier bis 2020! Unter den Stapeln förderte sie mehrere Dosen zutage, in denen es klapperte.
Ach nein – Büroklammern, ein abgebrochenes Lineal, Stifte, Kugelschreiberminen, Patronen (aber zu welchem Füller sollten die denn passen?), Buntstifte, die sachte vor sich hin bröselten… Sie kippte fast alles in den Müll und trug die Dosen in die Küche – bei Gelegenheit gehörten sie in die Spülmaschine.
Die leere Kiste kam zur ersten in den Flur.
Halb zehn.
Nummer 15 bis 21 – viertel vor zehn.
Danach reichte es ihr. Sie lief noch einmal alle Zimmer ab – Wohnzimmer: Chaos, Arbeitszimmer: Chaos mit einer winzigen Schneise darin, Schlafzimmer: bäh. Viertes Zimmer: Gerümpel – und keine Ahnung, was das einmal werden sollte. Die Küche sah grausig aus, das Bad war nicht viel besser. Und geputzt hatte sie schon länger nicht mehr, man sah´s.
Sie zog sich aus, kniff sich missmutig in den Hüftspeck und die Bauchfalten, beschloss, sich erst morgen früh zu wiegen, schrubbte sich das Gesicht, putzte die Zähne, cremte sich ein – warum hatte sie eigentlich so viele angebrochene Cremetuben und –töpfchen? – und schlüpfte in ein nicht wirklich frisches Nachthemd. Morgen musste sie dringend auch mal Wäsche waschen. Morgen hatte sie aber bis Viertel nach vier Unterricht, fiel ihr ein, als sie das Licht ausknipste. Da kam sie auch wieder zu nichts. Und was wollte sie morgen im Unterricht machen? Mathe 10, Mathe 7, Geo 12, Seminar Geo. Da hatte sie diesen Basistext über die Charakteristika einer Megacity, damit waren die Teilnehmerinnen beschäftigt. Immerhin – aber eng wurde es morgen bestimmt wieder. Verdammter Mist.
Wenigstens war sie einigermaßen rechtzeitig aufgestanden, lobte sie sich selbst am nächsten Morgen. Sie konnte duschen, die zweite Aufgabe fertig korrigieren, zwei Tüten voller Müll stopfen – sie hätte sogar frühstücken können, wenn etwas Verlockendes im Haus gewesen wäre.
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