Intensiv, das Glas mit meinen Händen bespielend, betrachte ich unser Wohnzimmer. Ich studierte es bis in die hintersten Ecken. Das Muster der Tagesdecke bestand aus kleinen weißen Punkten. Eins, zwei, drei, vier,... Ob sie die Abstände willkürlich so gesetzt hatten? Fünf, sechs, sieben,... Was für ein Stoff hatten die Schneider verwendet? Davon verstand ich nichts. Acht, neun, zehn,... Es war echt schwer, im betrunkenen Zustand konzentriert zu zählen. Elf, zwölf, dreizehn,... Das wirkte besser als jede Schlaftablette, ganz sicher. Vierzehn, fünfzehn, sechzehn,.....
„Max! Könnte ich kurz telefonieren? Ich würde gerne Hubert informieren, dass ich heute nicht mehr heimkehre. Er soll nicht unnötig warten.“
Ihre plötzliche Wortmeldung ließ meinen Kopf aufschrecken.
„Klar. Bedien dich.“
„Danke.“
Sie nahm das Handy und ging hoch in unser Zimmer. Scheiße, wo war ich jetzt mit dem Zählen? Zum Neubeginn fehlte mir die Motivation. Tick, tack, du bist ein echtes Wrack. Tack, tick, der Schnaps bricht dir´s Genick. Ein winziger Blick jetzt auf die Uhr, du verschwendest deine Zeit hier nur. Mein Kopf war gefüllt mit aneinander gereihtem Schwachsinn. Brachte er nichts Wertvolleres hervor, als diesen Nonsens? Der massive Stress schien sich in kognitiven Defiziten niederzuschlagen. Da konnte man schon mal an seiner Intelligenz zweifeln. Zwei Stunden fehlten noch, dann wäre ein weiterer Tag überlebt. Die Weise in der ich ihn überstanden hatte, war ähnlich klasse wie gestern. Morgen hätte ich wieder einen Aspirinmangel zu beklagen. Und Sarah? Tja, das blieb ein Mysterium. Wir hatten was übersehen. Ein kleines Detail. Bloß welches war die Frage. Unsere Sicht war eingeengt. Wir empfanden uns einer Herausforderung gegenübergestellt, die jedem einiges abverlangte. Mir wurde extrem langweilig.
„Maaaaaaary!“, lallte ich lauthals. „Marry, bist du fertig mit der Informationsübergabe?“
Mit Schwung sprang ich von der Couch auf. Ich rannte zur Treppe, den Kopf in den Nacken gelegt, hinauf starrend. Die Hände klopften ungeduldig aufs Geländer. Eine Minute danach trat sie in Sichtweite. Ob unangebracht oder nicht, trällerte ich dämliche Songs. Jetzt gerade: „ and then along Comes Mary, Mary, Mary,.....“
„Ich wüsste nicht, was aktuell Anlass gibt so fröhlich gestimmt zu sein.“ Mit ernster Miene kam sie zu mir.
„Deine Frau ist verschwunden. Deine Tochter begraben. Und du singst rotzevoll Lieder. Für Aveline können wir nicht mehr viel tun, außer sie in unserer Erinnerung sowie unseren Herzen behalten. Sarah lebt noch, sie ist es, der wir unsere Energie widmen müssen!“
Ihr Gefasel zog mich sogleich wieder runter. Diese dauerhaft präsente Negativität ließ mich nicht mehr los.
„Hmm“, brummte ich. Klar, Recht hatte sie. Eine Sarah war aber nicht da. Aus den Rippen schnitzen konnte ich mir ebenfalls keine. Was also tun? Um nicht zu zerbrechen, war die Verdrängung der derzeit schnellste und effektivste Weg.
„Ich schlage vor, wir legen uns schlafen. Eventuell bekommen wir ja zwei, drei Stunden gegönnt. Beten wir, dass wir sie morgen gesund wieder in die Arme nehmen können.“ Damit machte sie auf dem Absatz kehrt. Sie schloss die Tür zum Schlafzimmer hinter sich. Ein wenig Müdigkeit ergriff mich. Im Wohnzimmer schnappte ich mir die Flasche Absolut. Dann stapfte ich treppauf, direkt in Aveline ihr Kinderzimmer, von dem jetzt eine gewisse Anziehungskraft ausging. Ich schaute mir die selbstgemalten Bilder, die ihre Wände zierten an. Sie zeigten Schmetterlinge, Blumen, Herzen, uns als Familie im Garten spielend. Es waren bunte, fröhlich anmutende Zeichnungen. Ein typisches Mädchenzimmer. Abends hatten wir stets zusammen gelegen. Ich erfand dann Geschichten über Prinz Maximus, wie er die Königin von Allerwelt kennenlernte und sie letzten Endes heirateten. Sie bildeten ein unschlagbares Team, welches furchtlos sämtliche Abenteuer bestritt. In ihrer grenzenlosen Liebe ersehnten sie sich nichts mehr als ein Kind. Jahre gingen ins Land vor dessen Erfüllung. Doch als es dann so weit war, ergriff eine all umfassende Freude die werdenden Eltern und ihr Volk. Sie wurden mit einer wundervollen Tochter gesegnet, welcher sie den Namen Prinzessin Aveline von Allerwelt gaben. Es war offensichtlich, dass es um unsere Familie ging. Ich verpackte es lediglich in eine Art zauberhaftes Märchen. Jeden Abend hing sie gespannt an meinen Lippen. Im Gegenzug genoss ich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Im Bett aufgereiht saßen ihre Puppen und Plüschtiere. Ich schnappte mir Miss Hummel. Ihr Favorit unter den vielen, die sie besaß. Sie schleppte sie überall mit, erzählte ihr Geschichten, schlief mit ihr ein. Zwischen ihnen bestand eine Beziehung, die Freundschaftswert hatte. Für einen Augenblick hielt ich es mir direkt unter die Nase. Ich atmete tief ein. Der Duft von Ave haftete noch daran. Diesen unverwechselbaren Geruch wollte ich vollkommen in mich aufnehmen. Vor meinem inneren Auge war es so, als stünde sie vor mir. Eine schöne Vorstellung. Den Wodka stellte ich neben mir auf das Fensterbrett, während ich mit Miss Hummel im Arm Platz auf Avelines Bett nahm. Erinnerungen schossen mir wie vorbeiziehende Kometen am Himmel durchs Bewusstsein. Meist in den unerwarteten Momenten. Ich sträubte mich nicht dagegen. Im Gegenteil. Sie waren mir willkommen. Durch diese Fetzen der Vergangenheit fühlte ich mich ihr näher. Davon konnte ich nicht genug bekommen. Mein erschöpfter Körper kuschelte sich in die Stofftiermenge, die Biene fest an sich gedrückt.
Ein leichter Rausch trug mich ein Weilchen später dann in den Schlaf. In meinen Träumen war die Welt noch in Ordnung. Gesund und lebendig streiften wir, lachend durch die naheliegende Landschaft. Die Sonne wärmte uns, während sie vom azurblauen Himmel herab lächelte. Kleine Passagen vergangener, glücklicherer Tage. „Daddy, komm mich suchen!“, sagte mir mein Spätzchen strahlend, mitten im Satz schon fortlaufend.
„Und was ist, wenn ich dich nicht finde?“
„Tja, dann bleib ich ewig verschollen.“, schrie sie. Mittlerweile schon außer Sichtweite. Um ihr die Zeit für das Finden des idealen Unterschlupfs zu geben, zählte ich bedacht langsam von zwanzig an rückwärts.
„Ich komme!“ Achtsam arbeitete ich mich vor. Im Wohnzimmer beginnend, ging es hinüber in die Küche, von der aus ich einen Abstecher ins Bad unternahm. Von Ave keine Spur.
„Piep!“
„Spätzchen, gib deinem Paps etwas Zeit dich zu entdecken.“
„Streng dich an! Beeilung Daddy!“ Das Untergeschoss konnte ich nun abhaken. Die Stimme kam eindeutig aus dem Obergeschoss.
„Gleich hab ich dich. Irgendwo hier bist du. Das weiß ich!“
Wie ein Geheimagent bewegte ich mich nun. Vorsichtig lugte ich um die Ecken, probierte geräuschlos zu gehen aus. Raum für Raum inspizierte ich geflissentlich. Unser Schlafzimmer? Fehlanzeige. Das Büro? Keine Aveline. Der Gästeraum? Nein. Eventuell war sie in der Badewanne im Bad? Erneut daneben. Obwohl sie sich zuvor zu erkennen gab, hatte ich leichte Probleme sie aufzufinden.
„Wo ist wohl mein kleiner Engel? Wie traurig, dann muss ich ja das ganze Vanilleeis mit Streuseln allein verdrücken!“, sagte ich extra laut.
„Piiiiiiieeeeeeeeeeep!“
„Was war das? Haben wir hier ein Vögelchen im Haus? Dann wollen wir es schnell wieder fliegen lassen!“
„Piep!“ Sie hatte ihr Zimmer als Versteck gewählt. Clever. Ich stand mitten in ihrem Kinderzimmer. Zuerst riss ich die Bettdecke zurück. Im Anschluss schaute ich unter das Bett.
„Ave, Engelchen wo steckst du?“
Die Stirn runzelnd blickte ich mich fragend um. Der Wandschrank war noch eine Option. Allerdings starrten mir beim Öffnen lauter Pullis und Kleider entgegen. Ratlos blieb ich stehen.
„Buh!“, schallte es ganz unerwartet in mein Ohr. Mein Herz holperte einmal kurz.
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