Mit schwammig, verklärtem Blick, saß ich, die Hände im Schoss verschränkt auf dem Bett. Unbewusst erzählte ich frei heraus, was immer mir in den Sinn kam.
„Kannst du dich noch daran erinnern, wie sie deinen Vater fragte, ob er der Weihnachtsmann ist, wegen seines Barts? Er hatte es vehement verneint. Trotzdem erzählte sie es stolz und ehrfürchtig in der gesamten Kindergartengruppe. Jedes Mal, wenn dann ihr Geburtstag anstand, starrten die Kleinen ihn dann an, als käme er von einem anderen Planeten. Sie amüsierte sich dabei köstlich, während sich dein eigenbrötlerischer Vater den nervenaufreibenden Verhören ihrer Freunde stellen musste. Wir haben so einiges erlebt. Hätten wir doch nur mehr Zeit gehabt.“
Mittlerweile fielen vereinzelte Tropfen aus meinen Augenwinkeln. In dieser Traurigkeit nach Halt suchend, schmiegte ich mich an meine Frau, ein Arm um sie legend. Allein die Nähe war angenehm beruhigend, ich verlangte nicht, dass sie mit mir interagierte. Da sein. Simple Anwesenheit des ebenso betroffenen Partners, der wusste, wie es einem ging, der ohne explizite Erklärungen verstand. Fühlte man sich derzeit noch so alleine, in der Trauer war man vereint. Es war unerheblich, wie viel Zeit wir hier untätig herumlagen. Wir würden uns den Raum schlichtergreifend nehmen, den wir benötigten. Es verstrichen Sekunden und Minuten, die Uhr lief unaufhaltsam weiter. Die Atmung meiner Frau wurde seicht, regelmäßig und ruhig. Sie war eingeschlafen. Möge sie wenigstens im Schlaf den Frieden finden, der uns im wachen Zustand nicht vergönnt ist.
Mich behutsam aufrichtend, ließ ich mich auf die Füße gleiten. Sie sollte nicht aus dem Schlaf geschreckt werden. Mir persönlich war nach Aktivität zumute. Wie genau diese aussah, wusste ich zwar noch nicht, ich würde mir aber etwas einfallen lassen. Sport wäre eine Option, dachte ich bei mir. Am Tresen der Küche mit einem Kaffee in der Hand, sinnierte ich über die in Frage kommenden Möglichkeiten. Hausputz war tendenziell hinzuzuzählen, doch Lust verspürte ich nicht. Sport treiben war eins meiner Lieblingshobbys. Ja. Vielleicht das. Mich mit Lenny verabreden könnte ich ebenso. Weggehen fiel aus. Er müsste schon zu mir fahren. Schließlich war Sarah hier. Sollte sie etwas brauchen, wollte ich für sie da sein. Interneteinkäufe tätigen? Irrsinn! Was brauchten wir schon? Früher haben wir Sämtliches für Ave im Netz geshoppt. Für uns zwei unnötig.
Wie viel Zeit hatte ich, bis der Arzt kam? Zwei Stunden. Zu knapp kalkuliert für sämtliche Unternehmungen. Eine Beschäftigung im Haus musste her. Erstmal noch eine Tasse Kaffee. Aus all den geschmiedeten Plänen resultierte der enttäuschend langweilige Einfall ein Buch zu lesen. Sonst konnte ich mich zu nichts aufraffen. Das lange Bücherregal, welches bis unter die Decke reichte, war prall gefüllt mit den unterschiedlichsten Werken. Ratgeber, Gedichtbände und Romane von A bis Z, baten eine reichhaltige Vielfalt. Es stand am anderen Ende des Raumes. Das bereitstehende Angebot konnte einen überfordern. Allein die Auswahl mochte Ewigkeiten dauern. Wie ein Ochse vor dem Berg stand ich vor einem Hort Büchern. Zögerlich zog ich beliebig eins hier, eins da heraus, mir den Abriss des Inhaltes auf deren Rückseite durchlesend. Richtig mitreißend fand ich keinen der Texte. Leicht entnervt schnappte ich mir blindlings ein beliebiges Buch. Der Ohrensessel nebst antikem Beistelltisch und gebogener Stehlampe, lud den begeisterten Leser zum Verweilen ein. In unserem Haus war es meine Ehefrau, die leidenschaftlich gerne las. Sie besaß kein favorisiertes Genre. Interessiert widmete sie ihre Aufmerksamkeit einer ganzen Bandbreite unterschiedlichster schriftlicher Ergüsse, der Autoren dieser Welt. Der Titel des Exemplars in meiner Hand lautete: The Big Deal. Der Kladdentext verriet, dass es um einen Mann ging, welcher sehr krank war. Er würde sterben, wenn nicht zeitnah ein passender Spender gefunden würde. Im Angesicht seines nahenden Ablebens schloss er einen Vertrag mit dem Leben. Nicht das, was ich als Lektüre für mich wählte, stünde dieses in einem Buchladen vor mir im Regal. Doch zog ich das Lesen der Langeweile vor. Seite für Seite arbeitete ich mich durch. Nun stellte ich unumstößlich fest, von diesem Werk angeödet zu sein. Glücklicherweise für den Autor waren Geschmäcker verschieden. In mir hatte er zweifelsfrei keinen neuen Fan gefunden.
Der Sessel war jedoch klasse. Zuvor hatte ich nie in ihm gesessen. Es war einer von Sarahs Plätzen. Ab und zu hüpfte auch Aveline drauf herum. Ich bevorzugte immer unser großes Sofa.
Dort konnte ich mich der Länge nach hinlegen, den Fernseher direkt vor mir. Dass wir ihn anmachten, war eine Rarität. Unsere kostbare, gemeinsame Freizeit brachten wir eher im Freien zu. Wir konnten definitiv als unternehmungslustige, naturliebende und aktive Familie bezeichnet werden. Ein Wochenende ohne eine gehörige Portion Frischluft? Undenkbar. Eine Ausnahme der Regel gab es lediglich, wenn wir arbeiten mussten. Unsere Kleine durfte dann bei den Großeltern nächtigen. Wie wohl jedes Kind, genoss sie das Verwöhnprogramm dort in vollsten Zügen. Sie hatte bei Mary und Hubert nahezu Narrenfreiheit besessen, da die zwei älteren Herrschaften unsere kleine Prinzessin vergötterten. Bei Erkundigungen was sie die Tage bei Sarahs Eltern getrieben hat, lautete die Antwort stets:
„Nix besonderes Daddy!“
Dann drehte sie sich zu ihrem Opa um und zwinkerte ihm verheißungsvoll zu. Obwohl mir der Roman fade vorkam, las ich ihn bis kurz vor drei. Für mich war es ein Buch für Frauen. Ich ließ es neben mich auf das Beistelltischchen fallen und drückte mich hoch. Im Laufschritt sprintete ich die Treppen hinauf, der Arzt würde in wenigen Augenblicken hier sein, da wollte ich Sarah zuvor wecken. Wer mochte es schließlich schon von einem Fremden aus dem Schlaf gerissen zu werden? Mit ruhiger Stimme, die Hand an ihrem Oberarm versuchte ich sie dazu zu bringen die Augen zu öffnen. Tatsächlich klappte dies schnell und problemlos. Bis es kurz später an der Tür klingelte, blieb ich noch bei ihr sitzen. Ich begrüßte Dr. Evert, der anfänglich mit mir alleine sprechen wollte. Um es weniger steif zu halten, machte ich uns beiden einen Kaffee.
Mit den zwei Tassen setzten wir uns dann auf die Couch. „Also Mr. Keben, bitte erzählen Sie mir, was....“
„Bitte nennen Sie mich Max.“
„Ok, Max. Wie geht es ihrer Frau?“
„Vor eineinhalb Wochen verunglückte unsere kleine Tochter bei einem Ausflug mit ihrer Freundin tödlich. Seitdem spricht meine Frau nicht mehr. Weder mit mir, noch mit irgendwem anders. Essen und trinken tut sie auch nur leidlich. Meistens ist sie zusammengekauert im Bett anzutreffen. Vor drei Tagen hatte sie sich sogar für einen längeren Zeitraum eingeschlossen.“
„Max, erst einmal mein herzliches Beileid zu ihrem Verlust. Wenn man einen geliebten Menschen verliert, geht ein jeder anders mit der Trauer um. Ihre Frau, scheint ihrem Schmerz auf diesem Wege Ausdruck zu verleihen. Aktuell, wo dieses schlimme Ereignis so frisch ist, empfinde ich es nicht als außergewöhnlich, wie sich ihre Frau verhält.“
„Ich weiß nicht wie ich damit umgehen soll. Es ist merkwürdig mit jemandem zu reden, der einem keine Antworten gibt. Meine Frau ist aktuell ein Schatten ihres alten Ich´s. Wie lange will sie noch stumm bleiben? Ich meine, das kann doch nicht ewig so laufen.“
„Ihr Empfinden ist nachvollziehbar. Geben Sie ihr Zeit. Sein sie für sie da, drängen sie sie zu nichts. Trauer ist ein langwieriger Prozess, der wie ich überzeugt bin, sich über Wochen und Monate hinzieht, speziell wenn man das eigene Kind verloren hat. Eine Patentlösung gibt es dort nicht. Jeder Mensch ist individuell, wie sein Umgang mit dem Schmerz.“
„Ich wünschte, es wäre leichter. Auch ich leide. Die Kraft, welche man aufbringen muss, sich um einen Menschen nebst der eigenen Qual zu kümmern ist enorm! Ich weiß nicht, wie lange ich das durchhalten kann. Bald müssen wir wieder arbeiten, das Haus zahlt sich schließlich nicht alleine, doch dass meine Frau für ihre Firma zeitnah wieder verfügbar ist, kann ich kaum glauben.“
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