„Schatz, ich räume das Geschirr ab. Setz dich auf das Sofa, wenn du magst. Ich kann dir ein wenig den Fernseher anmachen.“
Da sie sich nicht rührte, führte ich sie rüber zur Couch. Durch die Kanäle schaltend, suchte ich ein Programm, welches ihr Zusagen könnte. Letzten Endes fiel die Wahl auf einen dieser Frauensender, der aktuell ein Backduell ausstrahlte. Dann will ich mich mal an die Arbeit machen, sagte ich mir, mich selbst motivierend. Zuerst nahm ich mir vor, Esstisch und Küche auf Vordermann zu bringen. Die Anwesenheit von Sarah im Hinterkopf, gab mir das Gefühl, sie hier noch ein wenig im Sichtfeld zu haben. Mir war bewusst, dass ich sie nicht vierundzwanzig Stunden täglich unter Kontrolle haben könnte. Doch engmaschig Beobachten, zumindest in der ersten Zeit wollte ich sie schon, schließlich wussten wir nach wie vor nicht, wo meine Frau die zwei Tage gewesen ist. In Windeseile verstaute ich das Geschirr im Spüler, wusch den Tisch ab, reinigte Arbeitsplatte und Tresen und legte die Nahrungsmittel zurück in den Kühlschrank. Im Abstand von fünf Minuten stierte ich zum Sofa. Selbe Haltung, gleiche Position. Man könnte meinen, eine Statue vor sich zu haben. Ob sie hierbleiben würde, während ich unter die Dusche sprang? Oder sollte ich sie lieber mitnehmen? Ungern wollte ich, dass sie sich als Gefangene beziehungsweise als unzurechnungsfähig abgestempelt vorkam. Normalerweise benötigte meine Frau niemanden, der sie betreute. In dem aktuellen Ausnahmezustand jedoch, galt es abzuwägen, ob eine vorübergehende Aufsicht induziert ist. Die Dekoration des Couchtisches beiseiteschiebend, setzte ich mich vor Sarah. Mit beiden Händen nahm ich ihr Gesicht. Sie sollte mir annähernd zugewandt sein, wenn ich mich mit ihr unterhalte.
„Schatz, ich möchte gerne duschen gehen. Ich bitte dich, solange hier zu warten. Es wird nicht allzu sehr andauern. Du kannst hier verweilen und etwas fernsehen. Eventuell machst du es dir gemütlich. Ganz wie du möchtest. Aber ich flehe dich an, aus tiefstem Herzen, nicht erneut fortzulaufen. Wir haben uns schreckliche Sorgen gemacht. Ich möchte diese Angst kein zweites Mal spüren müssen. In wenigen Momenten, du wirst sehen, bin ich zurück. Dann leiste ich dir Gesellschaft. Falls etwas ist, weißt du, wo du mich findest.“
Vornübergebeugt gab ich ihr einen Kuss auf die Stirn. Ich konnte es kaum erwarten, die Wassertropfen meinen Körper herunterlaufen zu spüren. Danach würde ich mich gleich entspannter fühlen und könnte bis zur Ankunft des Hausarztes die Zeit mit Sarah verbringen. Meine alten Klamotten warf ich in den Wäschekorb. Die Temperatur des Wassers stellte ich lauwarm ein, damit das Frischegefühl deutlich spürbar ist beim Verlassen der Wanne. Eine Weile ließ ich es einfach an mir hinab perlen, die Augen verschlossen, der Kopf in den Nacken gelegt, gehalten von meinen zwei Händen. Ich könnte ewig so ausharren. Am in der Wand verbauten Digitalradio stellte ich Entspannungsmusik ein. Paradiesisch lautete der ideale Ausdruck für den Zustand, in dem mein Geist sich gerade wähnte. Ein Moment absoluten Seelenfriedens. Als ich eine gefühlte Ewigkeit später meine müden Lider hob, lehnte ich mich zum Regal, welches hinter der Duschwanne platziert war, um mir eine meiner Uhren zu fischen. Ich war bereits seit über zwanzig Minuten hier oben. Zügig seifte ich mich ein und spülte den Schaum ab. Eilig schnappte ich mir das große Badehandtuch vom Haken. Mit leichtem Druck rubbelte ich alle Körperpartien trocken.
Mit dem um die Hüfte gewickelten Handtuch ging ich in Avelines Zimmer, ungeahnt dessen, die Antwort der dringlichsten Frage der vergangenen Tage zu erhalten. Ich wollte das Bett machen, sowie die restlichen Dinge raus räumen, die ich hineingeschleppt hatte. Allerdings stachen mir direkt beim Öffnen der Zimmertür die sperrangelweit aufgeklappten Seiten des Staufaches ins Auge, von dem eine gestrickte Leiter hinab hing. Der Traum, welchen ich die eine Nacht hatte, durchfuhr mich wie ein Schnellzug. Fetzenweise Szenen liefen wie ein kaputter Film in meinem Kopf ab. Das Geheimversteck schien wahrhaftig existent zu sein. Nun vollends bei der Sache, zog ich mir einen Stuhl direkt davor. Ich musste reinsehen. Meine Neugier war unbändig. Was war dort drin? Mit offenem Mund gab ich mein Erstaunen preis. An der Hinterwand entlang waren Regale mit Büchern. Die Innenseiten der Schranktüren zierten gemalte Bilder meiner Tochter und an der Decke hingen den Sternen am Himmel gleich kleine LED´s. Der Gesamtanblick, welcher sich mir bot, strahlte eine Urgemütlichkeit aus, die zum Verweilen einlud. So mancher Traum konnte hier ersponnen werden mit der einzigartigen Fantasie eines Kindes. Decken und Kissen polsterten den Boden des Stauraumes aus. Einzig ein zerknüllter Haufen Taschentücher störte diese harmonische Umgebung. Sarah. Mir fiel es wie die Schuppen von den Augen. Wie mein Innerstes es schon längst gewusst hatte, war sie nie außerhalb unserer vier Wände. Sie hätte an mir vorbeischlüpfen müssen. Was nach allen Gesetzen der Logik unmöglich war. Meine Nase versank sehnsüchtig in den dort drapierten Kissen. Sie suchte nach einem Hauch von Ave. Mit leichter Konzentration wurde sie fündig. Ich sog den Geruch tief in meine Lungen ein, bevor ich mein Gesicht hob. Die benutzten Tücher sammelte ich sorgsam ein. Das Zimmer sollte exakt dem Bild gleichen, das ich hatte nachdem ich es betreten hatte. Als mein Arbeitswerk getan war, schlenderte ich die Treppen herab. Ich wollte mit Sarah reden. Meinen Gedanken und Emotionen Ausdruck verleihen. Sie sollte an meinem Innersten teilhaben. Wer wäre geeigneter als meine geliebte Frau. Sie vermochte nicht zu antworten, doch ich war sicher, sie hörte zu. Von irgendetwas von dem, was ich ihr mitteilte, nahm sie sicherlich Notiz. Das Handtuch enger um die Hüfte schlingend, trabte ich die Stufen ins Erdgeschoss herab.
„Schatz. Sarah, mein Engel!“
Verdutzt kam ich am unteren Absatz zum Stehen. Das Sofa war verwaist. Ich atmete kontrolliert tief ein und aus. Ein verzweifelter Versuch der Selbstberuhigung. Würde sie schon wieder unauffindbar sein? Diesmal bestünde sogar die Option, dass Haus gänzlich verlassen zu haben. Nein! Das würde sie mir nicht zumuten. Ich trat näher an die Couch, auf der die Fernbedienung lag, um den Fernseher abzuschalten. Dämlicher Kasten! Ein verliebtes Paar, welches ihr zweites Kind erwartete, flimmerte über den Bildschirm. Bestimmt hatte Sarah das angesehen. Ein Grund mehr, Frauensender zu hassen. Meine tiefe Abneigung gegen solche Kanäle bestätigte sich einmal mehr. Diese emotionsgeladenen Sendungen waren anstrengend. Für eine Frau, die ihr Kind betrauert absolutes Gift. Hätte ich gewusst, dass sie eine Kinderwunsch Sendung ausstrahlten, hätte ich einen Sportkanal gewählt.
Systematisch ging ich im Kopf durch, wo meine Frau derzeit ihre Lieblingsplätze hatte. Das Schlafzimmer war mein Platz Eins unter den Top Ten, der Orte an dem ich suchen würde. Keine drei Minuten später stand ich schon im Türrahmen zu unserem Raum und traf sie dort tatsächlich an. Zusammengerollt wie eine Katze lag sie im Bett, die Decke weit hochgezogen.
„Da bist du ja!“; entgegnete ich, ohne den Hauch eines vorwurfsvollen Tonfalls anklingen zu lassen.
„Ich,...Ich weiß nun, wo du dich aufgehalten hast in der letzten Zeit. Ich kann es verstehen. Wirklich. Es ist ein schönes Plätzchen! An diesen speziellen Stellen hat man das Gefühl, Aveline nah bei sich zu haben. Wenn man dann den Geruch von ihr wahrnimmt, ist es, als stünde sie vor einem. Ich vermisse sie so sehr! Ebenso wie ich spüre, dass ihr Fehlen dich schmerzt. Sie war ein wundervolles Mädchen. Ihre Anwesenheit alleine konnte einen schlechten Tag wieder ins Gute kehren. Und ihre Fantasie! Gott, was erzählte sie manchmal für absurde Geschichten, über die wir gemeinsam herzlichst lachten. Stets war sie zu Scherzen aufgelegt. Eine ernste Miene hab ich, streng genommen kaum gesehen in diesen acht Jahren. Sie war mein Spätzchen. Welch Glück wir besessen haben, sie unsere Tochter nennen zu dürfen, ist mir erst nach ihrem Tod extrem bewusst geworden.“
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