Er hörte den Rittmeister leise lachen. „Das habe ich mir beinahe gedacht, mein Sohn Karl“, sagte er höchst zufrieden. „Du hättest mich enttäuscht, wenn du dich anders entschieden hättest. – Aber was machen wir jetzt?“
„Jetzt?“ fragte Karl Siebrecht. „Jetzt gehe ich nach Haus, und morgen versuche ich mein Heil anderswo.“
„Wieder auf einer Baustelle?“
„Das weiß ich noch nicht.“
„Oder irgendwas im Autofach?“
„Vielleicht. Aber ich will mir nicht von Ihnen helfen lassen!“
„Das sollst du auch gar nicht! – Sage mal, du hast mir doch gesagt, du bist der Sohn von einem Baumeister ...“
„Ja, aber ...“
„Da kannst du doch sicher mit Reißschiene und Zirkel umgehen?“
„Ja, aber ...“
„Und bestimmt kannst du auch Pausen von Bauzeichnungen machen?“
„Ja doch! Aber ...“
„Was würdest du dazu sagen, wenn du für den Anfang erst einmal auf dem technischen Büro von meinem Schwager Kalubrigkeit arbeiten würdest? Bloß so lange, bis du ein wenig in Berlin warm geworden bist? Du kannst dich ja dabei unter der Hand immer nach etwas anderem umsehen?“
Der Junge grinste. „Herr Kalubrigkeit würde mich wohl denselben Augenblick rausschmeißen, wo er mich zu sehen kriegte!“
„Dich zu sehen? Aber mein Schwager kommt nie auf sein technisches Büro! Glaubst du, das interessiert ihn? Kalubrigkeit ist doch kein Baumeister, Kalubrigkeit ist doch ein Bauunternehmer, den interessiert bloß Geld! Jawohl, er lässt sich mal auf dem Bau sehen, aber von der Bauerei versteht er gar nichts, er will nur Geld sparen, davon versteht er was! Nein, der Kalubrigkeit würde dich nie zu sehen kriegen, nach menschlichem Ermessen nie!“
„Ich möchte nicht gern ...“ sagte der Junge zögernd.
„Sei doch kein Schaf, mein Sohn!“ ermahnte ihn der Rittmeister milde. „Jetzt lehnst du doch nur ab, weil der Vorschlag von mir kommt. Aber ich sage dir, du bist mir zu gar nichts verpflichtet. Dein Feingefühl kann beruhigt sein. Ich weiß, sie haben augenblicklich irrsinnig zu tun auf dem Büro, sie planen eine riesige Geschichte im Bayrischen Viertel – weißt du, wo das ist?“
„Nein.“
„Das musst du dir mal ansehen, das wird das Feinste vom Feinen. Fünfstöckige Mietshäuser mit erstklassig imitiertem bayrischem Fachwerk und goldenen Zwiebeln auf dem Dach! Na, und meinen Schwager lässt der Ehrgeiz nicht schlafen, so was muss er auch bauen! Da planen sie nun und zeichnen. Warum sollst du keine goldenen Zwiebeln zeichnen? Es kostet mir nur einen Anruf!“
„Und nach einer Woche oder einem Vierteljahr soll ich zu Ihnen kommen und Bericht erstatten, nicht wahr? Und Sie reden mir alles kaputt, was mich gefreut hat!“
„Nein, nicht einmal das sollst du! Wenn du keine Lust hast, brauchst du dich nie wieder in der Kurfürstenstraße zweiundsiebzig sehen zu lassen. Trotzdem es mich freuen würde. Aber du bist mir zu nichts verpflichtet. Im Gegenteil. Wenn du morgen früh um neun in das Büro Krausenstraße zwölf von Kalubrigkeit & Co. kommst – Co., das bin ich und noch ein Haufen fauler Nichtstuer –, dann wirst du ein Schild an der Tür sehen: ›Bauzeichner und Pauser gesucht‹. Du siehst also, ich mache dir keinen Extraplatz frei. – Einverstanden?“
„Einverstanden!“ sagte Karl Siebrecht.
12. Der eifersüchtige Bäcker
Das Mädchen war müde gewesen, der Junge war müde gewesen: sie waren beide am Herd eingeschlafen. Das Feuer erlosch, der letzte Hauch von Wärme verflog, nebenan in der Stube rührte sich Tilda im Schlaf: sie erwachten beide, es war ihnen kalt. „Gleich elfe“, sagte Rieke Busch und reckte sich. „Und Vata imma noch nich da!“ – Der Junge hatte ein Schuldgefühl, er sagte nichts. – „Vata verträgt nich ville“, sagte das Mädchen wieder. „Und nu is er bald zwölf Stunden uff de Tour.“
„Soll ich noch einmal hingehen und versuchen, ihn fortzukriegen?“ fragte Karl Siebrecht.
„Haste ihn nich weggekriegt, als er noch nüchtern war, wirste ihn nich wegkriegen, wenn er blau is, Karl“, sagte Rieke, und wenn diese Worte auch ohne eine Spur von Vorwurf gesagt waren, empfand sie Karl Siebrecht doch als Vorwurf. Wieder schwieg er.
„De Elektrische jeht noch zwei Stunden“, meinte das Mädchen wie zu sich. „Ick könnte sehen, det ick ihn heimlotse.“
„Dann gehe ich mit!“ rief Karl Siebrecht entschlossen.
„Zu wat denn?“ fragte Rieke. „Schlaf dir lieber jut aus, det de morjen frisch bist for deine neue Stellung.“
„Und du, Rieke, brauchst du keinen Schlaf?“
„Ick bin wenig Schlaf jewöhnt, mir macht det nischt.“
„Horch!“ sagte der Junge. Ein aufheulender Windstoß hatte prasselnde Regentropfen gegen die Scheibe gejagt. „Wie das stürmt und regnet!“
„Ja – und wenn er blau is, haut er sich hin, wo er jeht und steht. Dann denkt er, sein Bette is überall. – Ick jeh los. Hau dir in de Falle, Karl, det de frisch bist morjen!“
„Ich gehe mit dir, Rieke!“
„Nee, du schläfst! Ick komme alleene zurecht! Ick bin immer alleene zurechtjekommen! Ick brooche dir nich!“
„Siehst du, Rieke, nun bist du mir doch böse, dass ich deinen Vater um seine Arbeit gebracht habe!“
„Du oller Dussel!“ sagte sie und sah ihn mit ihrem alten Mut und Humor an. „Wat du dir allens inbildest! Zu wat soll ick dir böse sind?! Da kannste doch nischt for!“
„Dann laß mich auch mitgehen, Rieke!“
„Nee, du sollst dir nich mit uns behängen! Det is nischt for dir. Jetzt, wo du 'ne feine Stellung hast –!“
„Nimmst du mir etwa die Stellung übel, Rieke?!“
„Du bist keen Arbeeta, Karl, und du wirst ooch keena! Ick habe mir det jestern anders jedacht. Aba wie de mir erzählt hast, det du mit dem Rittmeista gesprochen hast, janz uff du und du, ick könnte det nich!“
„Aber die Stellung hätte ich nicht annehmen sollen auf dem Büro, nicht wahr, Rieke?“
„Doch hättste! Jrade hättste! Bloß – det ick dabei injesehen habe, det ick dir bloß hemme, der hatt ick jestern abend noch nich kapiert. Aber heute hab ick's kapiert, und da sare ick: Schluß, Karl!“
„Rieke!“ sagte der Junge. „Jetzt will ich dir etwas sagen: wenn ich jetzt nicht mit dir gehen darf, und wenn ich nicht weiter zu euch kommen darf, dann trete ich die Stellung morgen nicht an!“
„Det tuste nich, Karl!“
„Das tue ich, Rieke!“
Sie sah ihn fest an. Er sah sie wieder an, mit leuchtenden Augen. Alle Müdigkeit war von den beiden abgefallen. Dann drehte sich Rieke kurz um. Sie nahm ein Tuch vom Haken, ein dunkles Umhängetuch mit langen Fransen, wie es die Arbeiterfrauen tragen. Sie legte es über Kopf und Schultern und sagte: „Na, denn komm, Karl! Laß det Kind die Bulette, sagt Mutta.“
„Und Mutta hat immer recht!“ lachte Karl Siebrecht, als er schon hinter ihr die Treppe hinunter stieg.
Auf den Höfen gurgelte und spülte und sprühte der Regen. Im dunkeln Torweg stießen sie an zwei, die dort eng nebeneinander standen. „Sieh jefälligst erst hin, ehe de einen umrennst!“ schalt eine zornige Stimme.
„Entschuldje man, Ernst!“ sagte Rieke, die Augen wie eine Katze haben musste. „Det nächstemal weeß ick det, in welche Ecke du knutschst!“ Es gab ein verlegenes Geräusch, ein Räuspern, und sie waren auf der Straße. Der Wind sprang sie mit aller Gewalt an, er jagte eisige Tropfen gegen ihre Gesichter, die sofort kalt wurden. Schulter an Schulter, vornübergebeugt, kämpften sie sich gegen den Sturm vorwärts. „Det war der Bäcker!“ rief Rieke. „Und det Mädchen is aus die Bügelei in der Jartenstraße!“
„Ich kann den Bäcker nicht ausstehen!“ rief Karl zurück.
„For wat denn nich? Det is doch een juter Junge! Wenn de noch een Mächen wärst – for junge Mächen is er nich so jut ... Die loofen ja alle bloß seine mehlichte Visage nach!“
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