Schulterbeißer, ging es mir durch den Kopf, als ich vor dem Unterhaltungsregal stand. Im Handumdrehen hatte ich mir einen hübschen Stapel zusammengesucht, lauter mehr oder weniger edlen Kitsch, und der Kassiererin meine Karte hingeknallt. In der Café RoyalFiliale in der Schalterhalle gönnte ich mir noch eine ordentliche Portion Marzipan und ZimtmoussePralinés, am Kiosk daneben eine Schachtel Sobranies und eine kleine Flasche Sekt. Heute würde ich eine Orgie feiern und lauter unvernünftige Dinge tun, lauter Dinge, die Paul aufs Heftigste missbilligen würde! Ha!
Zwei Stunden später war mir grottenschlecht. Ich hatte alle Pralinés verputzt, drei Sobranies geraucht (mit rosa, lila und türkisgrünem Filter, die Dinger waren mir eigentlich viel zu stark) und einen ganzen Roman verschlungen – Millionenerbin verliebt sich in knackigen, naturverbundenen Stallburschen und erlebt in seinen Armen die höchsten Wonnen der Leidenschaft (sehr farbig beschrieben, durchaus anregend!), bis die böse, intrigante Familie, unter anderem die unvermeidliche Stiefmutter (mit rotgefärbten Haaren, schon sehr verdächtig), das liebende Paar auseinander bringt. Also flieht die Millionenerbin mit gebrochenem Herzen (und einem kleinen Stallburschen unter demselben) und versucht, fern der Familie ihr Baby zur Welt zu bringen und großzuziehen. Natürlich taucht der frischgebackene Vater rechtzeitig auf, böser Vater und noch bösere Stiefmutter kommen standesgemäß um (die Stiefmutter fährt, sinnlos betrunken, die beiden frontal gegen einen Brückenpfeiler), die Erbin erbt und die junge Familie lebt nun glücklich in der Familienvilla. Natürlich redete man einer Mesalliance nicht das Wort, der Stallbursche war kein gewöhnlicher Stallbursche, sondern der Erbe einer Pferdezüchterdynastie (der Roman spielte in Kentucky), so dass keine Gefahr bestand, dass er Fisch mit dem Messer aß oder mit Stiefeln ins Bett ging.
Schwachsinn! Ich klappte das Buch zu und ärgerte mich über mich selbst. Andererseits hatte es wirklich Spaß gemacht, diesen Blödsinn zu lesen, richtig zu schmökern. Paul hasste solche Bücher, er hielt sie für unrealistisch und Geldverschwendung. Er selbst las nur Sachbücher, vorzugsweise über Personalführung, Feinheiten des Heimwerkens oder Die schönsten Wandertouren durch das Oberland. Hatte ich ihn jemals mit einem Roman gesehen? War er gar nicht neugierig auf die vielen anderen Leben, die zwischen Buchdeckeln auf ihn warteten? Wohl nicht, er hielt ja sein Leben für das einzig wahre.
Ich merkte jetzt erst, wie wenig ich über ihn wusste. War er
religiös? Wo stand er politisch? Interessierte er sich für Kunst? Guckte er sonntags Autorennen? Wie war seine Schulzeit? Hatte er das alles geheim gehalten oder hatte ich mich nicht genügend für ihn interessiert? Hatte ich ihn nur als mein privates emotionales Sicherheitsnetz benutzt? Hatte ich ihn jemals geliebt? Offenbar nicht, stellte ich fest, missgelaunt auf der Couch liegend und ab und an leise rülpsend. Puh, war mir schlecht! So bald brauchte ich nichts Essbares mehr! Bestimmt hatte ich zwei Kilo zugenommen! Ich schlief, vollgefressen wie ich war, auf dem Sofa ein und wachte zwei Stunden später noch schlechter gelaunt wieder auf. Der Geschmack in meinem Mund war grauenhaft, außerdem musste ich dringend aufs Klo.
Sobald ich diesem Bedürfnis gefolgt war, betrachtete ich mich kritisch im Spiegel. Die Haare verlegt – auf einer Seite standen sie in die Höhe, auf der anderen hingen sie platt herunter, und das Ganze sah aus wie eine herausgewachsene Dauerwelle, dabei waren meine rotbraunen Locken echt, wenn auch leicht fettig. Auch das Gesicht glänzte und war blass, bis auf die rote Nase und die Schatten unter den Augen. Und im Profil hatte ich einen beachtlichen Stehbauch. Grauenvoll!
Entschlossen riss ich mir die Klamotten vom Leib und stieg unter die Dusche. Nach einer Haarwäsche und einer ordentlichen Portion Duschöl fühlte ich mich besser, ich schrubbte mir noch gründlich die Zähne und schlüpfte in einen knappen Sportdress. So sah ich doch schon fast wieder menschlich aus!
Im Wohnzimmer suchte ich zwischen meinen CDs herum, bis ich meine Sportsammlung gefunden hatte – zu Stücken wie It´s Raining Men, Bye bye bye, Don´t Stop Moving, Move Your Body und so weiter konnte man so intensiv tanzen, dass man sich nachher so richtig zufrieden fühlte. Nach einer Dreiviertelstunde hielt ich schweißgebadet inne und rang nach Atem. Sehr gut, ich konnte förmlich spüren, wie das Fett, dass ich mir vorhin so gierig einverleibt hatte, sich wieder verflüchtigte. Und meine Aggressionen gegen Paul schwanden auch dahin!
Ich stoppte die CD, zog die Vorhänge auf, registrierte das Licht gegenüber, drückte wieder auf Start und legte von neuem los. Hoffentlich guckte er auch, mein schweißnasses Decolleté über dem knappen Top war kein allzu hässlicher Anblick, und mein hübscher runder Hintern in den knallblauen Leggings war auch sehenswert. Ich tanzte und turnte, bis ich wirklich nicht mehr konnte, und versuchte, nur ganz unauffällig zum Fenster zu schauen. Guckte er? Schwer festzustellen!
Als ich nach einer erneuten Dusche schließlich im Bett lag, kehrte mein Frust aber wieder zurück, ohne dass ich herausfinden konnte, was mir nun eigentlich genau nicht passte. Wollte ich Paul zurückhaben? Bäh, nein! Wollte ich einen anderen? Hm... Wollte ich Sex? Richtig guten Sex? Vielleicht, ja, aber ein bisschen echte Romantik wäre mir lieber... Wirklich? Das überlege ich mir morgen, beschloss ich und angelte nach dem nächsten historischen Kitschroman. Hm, das klang gut – arme Waise und arroganter Marquis, dessen Herz voller Kälte war. Kann die bezaubernde Isabelle ihn aus seiner Erstarrung lösen und ihn die Liebe wieder lehren? Gierig schlug ich den Prolog auf und las, bis ich darüber einschlief. Leider gelang es mir nicht, von dem arroganten, aber wunderschönen Marquis zu träumen – offenbar wusste auch mein Unterbewusstsein, dass solche Männer nur zwischen Buchdeckeln zu Hause waren. Irgendetwas Angenehmes hatte ich aber geträumt, nur konnte ich mich nicht mehr entsinnen, was es war.
Vielleicht war der Konsum dieser Schinken viel befriedigender als ein Mann aus Fleisch und Blut, der Sportschau guckte, in puncto Finanzen alles besser wissen wollte, schon die Namen für unsere Kinder ausgesucht hatte (Helmut, Peter und Ingrid – nicht ganz mein Geschmack) und nachts phantasielos und viel zu schnell fertig war? So konnte man doch wenigstens träumen und sich ansonsten der Arbeit widmen!
Und wenn ich erst einmal den Job in der Pressestelle hatte, war ich auch abgesichert – mit den Tippereien konnte ich mir dann noch ein Taschengeld dazuverdienen und mein Depot gelegentlich aufstocken. Und Paul konnte meinetwegen zum Teufel gehen... Genau, das war´s! Paul sollte Heide heiraten und mich in Frieden lassen. So ganz befriedigend war dieser Plan noch nicht, aber die weitere Feinarbeit verschob ich auf unbestimmte Zeit und schaltete meinen Computer ein.
Der Roman wurde immer beängstigender. Die Freundin hatte nun voller Entsetzen die Flucht ergriffen, worauf der Held sich ein Haus auf dem Land kaufte, schön einsam gelegen (wovon eigentlich?) und bei einem seiner Besuche in der Stadt eine Frau entführte. Das nächste Kapitel beschrieb ausführlich, wie er sie zur Sklavin erziehen wollte, mit mäßigem Erfolg. Ganz klar wurde freilich nicht, ob es ihn irritierte, dass die Dame – eine ätherische Blondine – so unwillig war, oder ob ihn gerade der Widerstand reizte. Fesseln, Wachs, Peitschen und sonstiger Kram aus dem Sexshop spielten eine große Rolle, und es wurde viel gestöhnt und geschrien. Nur noch zwei Kapitel! Wie wollte er den wackligen Spannungsbogen bis dahin wieder abrunden? Als er einen Freund einlud, um zuzugucken, wie der sich der ätherischen Blondine bediente, brach ich die Arbeit für heute ab – das reichte ja nun wirklich! Bei dem schönen Wetter könnte ich schwimmen gehen...
Читать дальше