Den Rest des Tages saß Heiko dann zu Hause vor dem Glas und sah zu, wie sich die Ameisen verhielten. Zunächst beobachtete er in dem Behälter ein unübersichtliches Gewusel. Doch dann begannen sie damit, sich zu organisieren und Gänge in die Erde zu bauen. Heiko war gefesselt davon, wie diese kleinen Tierchen jedes einzelne Sandkorn mit ihren Zangen fassten und wegtrugen. Das ganze Treiben erschien mit einem Mal genau geordnet, wie abgesprochen und jede einzelne Ameise kannte ihre Aufgabe und den Bauplan. Körnchen für Körnchen trugen sie eifrig an einer Stelle an der Oberfläche des Sandes ab, um einen Gang in die Tiefe zu treiben. Das war faszinierend!
Am nächsten Tag konnte Heiko schon durch das Glas deutlich die zahlreichen Gänge sehen, die in solch mühevoller Kleinarbeit entstanden waren. Was diese Winzlinge da über Nacht geschaffen hatten, stellte sich für Heiko schon wie ein kleines Wunder dar. Die Ameisen verdienten von nun an seinen Respekt. Heiko fütterte sie mit feinen Sachen, von denen er wusste, dass sie sie liebten. Er kippte ein paar Zuckerkörner in das Glas oder legte ein kleines Stück Schokolade hinein und, weil bei seinen Erkundigungen heraus kam, dass auch Ameisen gerne Nektar ernteten, besorgte er täglich duftende Blüten von Sträuchern und Unkrautgewächsen. Am meisten bot er ihnen die Taubnessel an.
Damit sich Kondenswasser bilden konnte, träufelte Heiko alle paar Tage etwas Wasser hinein. Denn er vermutete, dass Ameisen, wie alle anderen Lebewesen, auch Wasser brauchten. In den Nachschlagewerken fand er nichts dazu und beschloss aber, dass es zumindest nicht schaden würde. Offensichtlich erging es ihnen in ihrem Gefängnis ganz gut, denn sie lebten alle weiter und Heiko musste keine Verluste beklagen. So konnte er über einen erheblichen Zeitraum die Ameisen beobachten, bevor er sie wieder im Herbst aussetzte.
Nur ein einziges Mal verlief eine seiner Beobachtung für eines der Insekten tödlich. Auf dem Weg zu Schule entdeckte Heiko morgens ein Spinnennetz. Er besah es sich ganz genau und wäre deswegen fast zu spät zur ersten Stunde gekommen. Allerdings nicht versehentlich, weil er die Zeit vergessen hätte. Heiko fand es einfach interessanter diese Spinnwebe zu betrachten, als pünktlich im Klassenzimmer einzutreffen. Dieses Risiko nahm er bewusst in Kauf. Wie toll die Fäden in der Morgensonne glänzten und wie gleichmäßig und geometrisch das Bild des Netzes war, ließ für ihn die Pünktlichkeit des Schulbeginns in den Hintergrund treten. Von der Spinne, dem Baumeister dieses erstaunlichen Gebildes, war allerdings nichts zu sehen.
Nach der Schule dann, deren Ende er redlich herbei sehnte, lief Heiko zuerst an einen Garten in der Kleingartenanlage, der in der Nähe lag, von dem er wusste, dass von den überhängenden Ästen die reifen Äpfel und Birnen auf den Gehweg fielen. Dort auf dem zerplatzen und gärenden Obst gab es jede Menge Fliegen, das war Heiko klar. Mit der bloßen Hand fing er sich davon eine der dicksten. Das war keine große Schwierigkeit und ging recht schnell, da Heiko sehr flink mit den Händen war.
Als er gleich beim zweiten Versuch glaubte, erfolgreich gewesen zu sein öffnete Heiko die Faust ein klein wenig, um der Fliege ein wenig Raum zu geben und das zu überprüfen. Als Heiko spürte, wie sie mit den Flügeln schlug, bestätigte ihm das seinen Jagderfolg und er lief los zu dem Spinnennetz. Ihm war schon klar, dass die Fliege lebend in das Netz kommen musste, weil die Spinne nur auf das Zappeln der Beute reagieren würde.
An seinem Ziel angekommen, warf er den Köder in das Netz der Spinne und wartete ab, was geschah. Zum Glück gelang Heiko der Wurf auf den ersten Versuch. Die Fliege landete im Zentrum des Gespinsts und haftete an den klebrigen Fäden. Ansonsten hätte Heiko noch einmal den Weg zurück laufen müssen, was er aber ganz sicher auf sich genommen hätte, um seine Beobachtung machen zu können.
Die klebrigen Fäden fesselten die fette Fliege und sie hing sicher darin und schlug hörbar summend mit den Flügeln, sodass das ganze Netz vibrierte. Schon nach den ersten Schwingungen kam die Spinne über die Haltefäden des Netzes aus einem kleinen Spalt in der Mauer gekrochen und hangelte sich schnurstracks auf ihr Opfer zu. Die Spinne betastete die Fliege kurz mit den Vorderbeinen, befand sie wohl für köstlich und spann sie deswegen blitzschnell ein und transportierte das Futterpaket ab.
Der Versuch verlief also erfolgreich für Heiko, wenn er auch dafür indirekt ein Insekt tötete, was er eigentlich nicht gern tat. Aber so ist die Natur, dachte er sich. Danach beeilte sich Heiko, die verlorene Zeit wieder aufzuholen, was ihm jedoch nicht ganz gelang. Seine Mutter fragte gleich: „Wo hast du dich denn wieder herum getrieben?“
Heiko erklärte ihr ausführlich, was ihn aufhielt und seine neuesten Beobachtungen. Etwas zu erfinden und zu lügen, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Mit sichtlicher Begeisterung für die Details schwärmte er mit leuchtenden Augen, in denen die Freude über seine praktische Übung zu lesen war, von seinem Feldversuch, wobei seine Mutter die Einzelheiten seiner Forschung eigentlich nicht so ausführlich wissen wollte.
„So etwas dachte ich mir schon“, erwiderte seine Mutter schließlich mit ein wenig Ekel. Sie kannte ihren Sohn und seine Eigenarten zur Genüge. Solche Dinge waren ihr natürlich trotzdem lieber als ein völlig anderes Erlebnis, das sie einmal mit Heiko erlebte. Auch da hatte er etwas ausprobiert jedoch auf einem gänzlich anderen Gebiet als die Erforschung von Tieren. Seine Mutter erschrak dabei ähnlich wie damals, als er in dem Betonrohr stecken blieb.
Heiko mag so neun oder zehn Jahre alt gewesen sein. Ein Cousin von ihm, der Sohn ihrer Schwester, war übers Wochenende zu Besuch. Heiko und Jens waren mit wenigen Monaten Abstand im gleichen Alter und verstanden sich hervorragend. Sie mochten sich sehr und verbrachten viel Zeit miteinander. Die beiden stellten zusammen nicht mehr an als andere Jungs. Sie waren also gemeinsam gut zu ertragen.
Nur dieses eine Mal kosteten sie seine Mutter einige Nerven. Die beiden spielten scheinbar brav und ruhig in Heikos Kinderzimmer miteinander, während die Erwachsenen sich im Wohnzimmer aufhielten. Als es dann Zeit wurde, die Kinder ins Bett zu bringen, kam seine Mutter ins Zimmer. Es war schon später als normal, denn wenn Besuch da war, durften die Jungs schon etwas länger auf bleiben.
Als die Mutter das Zimmer betrat stutze sie sogleich. Heiko und auch Jens standen irgendwie seltsam, mit verschobener Figur und schräg da. Wie auf ein Kommando drehten sich die Jungs langsam zu ihr um und sahen sie merkwürdig an, ohne auch nur einen Ton von sich zu geben. Der nächste Blick von Heikos Mutter fiel auf dessen Schreibtisch, auf dem sich eine kleine Pfütze aus dunkelroter Flüssigkeit befand, die aussah wie Blut. In diesem Moment stolperte Heiko und schlug der Länge nach auf den Boden, um dort regungslos liegen zu bleiben. Jens schaute ihm nur teilnahmslos zu.
„Herbert“, schrie die Mutter mit einem Anflug von Hysterie nach ihrem Mann, weil sie nicht wusste, was da los war. Sie befürchtete das schlimmste, ohne zu wissen, was das denn sein könnte. „Was ist das? Was habt ihr gemacht?“ Die Frage hatte sie noch nicht ausgesprochen, da kniete sie schon neben Heiko und streichelte sein Gesicht in ihrer ängstlichen Ungewissheit. Jens hielt sie gleichzeitig im Arm.
Die Jungs sahen sie mit leicht verdrehten Augen an, ohne zu antworten. Der Vater war sofort zur Stelle, denn er wusste, dass seine Frau nicht so leicht aus der Fassung zu bringen war. Wenn sie ihn derart rief, musste schon etwas Schlimmeres geschehen sein. Gleich nach ihm folgten Jens` Eltern.
Als der Vater jedoch die beiden sah, lachte er laut hinaus, was die anderen zunächst nicht verstanden. „Die sind betrunken“, erkannte der Vater amüsiert gleich die Situation.
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