Heiko war fast ganz durch die Röhre gekommen und steckte knapp vor dem Ausgang fest. Aber er klemmte noch zu weit drinnen, als dass seine Mutter ihn richtig zu fassen bekommen hätte. Sie konnte ihn gerade so mit den Fingerspitzen unter den Armen berühren. Das reichte aber nicht, um ihn heraus zu ziehen. Heiko weinte vor Angst und vielleicht auch vor Schmerzen, das konnte seine Mutter nicht genau feststellen. Jedenfalls schluchzte er jämmerlich und das tat ihr weh.
„Bleibe ganz ruhig, nicht mehr weinen. Mami holt Hilfe mein Liebling“, versuchte sie ihr Kind zu beruhigen. Es gelang und er wimmerte nur noch ein wenig. Seine Mutter lächelte ihm noch einmal ermutigend zu, bevor sie aus seinem Blickfeld verschwand, obwohl sie wusste, dass es in der Situation schlecht war, ihn zu verlassen, aber sie musste schließlich Hilfe holen. Heiko wartete tapfer ab, ohne zu weinen und ohne Angst zu zeigen, obwohl seine Mutter verschwand, was geschehen würde. Anscheinend erfasste er die Lage richtig und verstand ihr Handeln.
Seine Mutter, völlig aufgelöst, lief auf die Strasse, um Hilfe für ihren festsitzenden Sohn zu finden, immer im Hinterkopf, dass er alleine in der Betonröhre steckte. Ein paar Häuser weiter stand ein Mann in seinem Garten und goss die Gemüsebeete. Auf ihn rannte sie zielstrebig los und rief ihm schon von weitem entgegen, dass sie Hilfe brauchte. „Mein Sohn klemmt in einer der Röhren dort, können sie bitte Hilfe rufen?“
Der Mann erkannte sofort die Tragödie, warf seine Gieskanne weg und lief ihr hilfsbereit entgegen. „Ich habe kein Telefon, aber die Grünwalds haben eines. Ich laufe zu ihnen und verständige die Feuerwehr!“
Das war doch schon ein Lichtblick, der sie erleichterte. Sogleich lief sie wieder zu den Röhren hin, um ihrem Sohn wieder beizustehen und ihn zu beruhigen. Ob sie sich bei dem gefälligen Mann überhaupt bedankte, wusste sie nicht mehr. Ihre Gedanken galten einzig ihrem Sohn. Trotz verweintem Gesicht lachte Heiko, als er seine Mutter wieder zu sehen bekam. Sie sprach beruhigend auf ihn ein und versuchte ihn so gut es ging zu streicheln, damit seine Angst sich legte. Heiko schien mittlerweile ruhiger zu sein als sie selbst, was andererseits auch ihr etwas die Anspannung nahm. Nun musste nur endlich die herbeigerufene Feuerwehr kommen. In solchen Situationen ist, wie man weiß, jede vergehende Sekunde eine endlose Qual.
Als erstes traf der Mann ein, den die Mutter um Hilfe gebeten hatte und bestätigte, dass die Feuerwehr auf dem Weg sei. Auch er versuchte dann erst einmal, Heiko aus der Röhre zu ziehen. Aber auch bei ihm gab es keinen Erfolg. Der Mann wollte natürlich auch nicht zu fest an ihm zerren, um ihm nicht weh zu tun. Der Junge saß unverändert fest.
Dann hörten sie mit Erleichterung die anrückende Feuerwehr. Das Martinshorn kündigte schon von weitem die Hilfe an, die Heiko benötigte. Die Sirenen kamen sehr schnell näher und wurden naturgemäß stetig lauter. Als die Einsatzwagen auf die Straße einbogen, in der sich die Betonröhren befanden, war der Lärm schier nicht zu ertragen. Obwohl das Gedröhn bedeutete, dass nun endlich die dringend benötigte Hilfe eintraf, schmerzte es beinahe in den Ohren.
Um das Betonrohr versammelten sich inzwischen weitere Passanten und an den Fenstern saßen durch den Alarm aufgeschreckt auch einige Leute, um zu sehen, was denn dort vor sich ging. Einer der hinzu gestoßenen Männern versuchte ebenfalls, den Jungen aus seiner misslichen Lage zu befreien, was ihm aber ebenso wenig gelang. Aber die Rettung näherte sich bereits im Eiltempo.
Der hilfsbereite Mann, der den Notruf abgesetzt hatte, winkte den Rettungskräften entgegen, um auf sich aufmerksam zu machen, was selbstverständlich nicht nötig gewesen wäre. Seine Mutter schaute erleichtert zu, wie die Wagen nun langsamer und ohne Martinshorn auf sie zu rollten. Wenige Meter von ihnen entfernt blieben sie stehen und aus dem Wagen sprangen sofort eifrig und dienstbeflissen zwei Feuerwehrleute auf die Straße.
Der Einsatzleiter kam direkt auf Heikos Mutter zu und fragte, um was es ging. Sie erklärte ihm: „Mein Sohn steckt hier in dem......“ und weiter kam sie nicht. Beim Umdrehen, um auf das entsprechende Rohr zu zeigen, sah sie, wie ihr Söhnchen aus eben diesem gekrochen kam. Er richtete sich auf und zeigte mit leuchtenden Augen und breitem Grinsen auf die großen, roten Autos und sagte: „uuuiii Feuerwehr!“
Unter Lachen sagte der Feuerwehrmann nur, „steckte“, und kniete sich zu Heiko hinunter. „Na kleiner Mann, tut dir was weh?“
„Nein“, war die knappe Antwort, ohne den Blick von dem imposanten, feuerroten LKW zu nehmen.
„Unsere Autos gefallen dir, was?“
„Ja“, kam sofort die Antwort mit begeistertem Blick im freudigen Gesicht. Der Schreck war da bereits vergessen.
„Willst du auch mal Feuerwehrmann werden, wenn du groß bist“, fragte der Einsatzleiter den kleinen Heiko. Bei dieser typischen Kinderbefragung musste seine Mutter schon im Voraus lachen, weil sie genau wusste, was nun kommen und wie Heiko den Mann verblüffen würde. Auch ihre Anspannung verflog sofort und sie freute sich, dass Heiko nichts weiter geschehen war und so konnte sie gelöst lachen.
Heiko sah dem Kommandanten dann direkt ins Gesicht und antwortete mit sichtlicher Begeisterung wortgewandt: „Ich werde mal Paläontologe.“
Hilfe suchend blickte der verdutzte Feuerwehrmann die Mutter an, weil ihm dieser Beruf rein gar nichts sagte. Den hätte er, wie die meisten Menschen nicht einmal auf Anhieb fehlerfrei aussprechen können. Die Mutter erklärte dem Feuerwehrmann, dass das ein Dinosaurierforscher sei. Ihr Sohn schwärmte von diesem Beruf, seit er einen Bericht über Ausgrabungen dieser Urechsen gesehen hatte. Dabei muss er diese Berufsbezeichnung aufgeschnappt haben und versetzt seit dem jeden damit in Erstaunen, der ihn nach seinem Berufswunsch fragte. Bis jetzt war noch niemand unter den Fragenden, der gewusst hätte, um wen oder was es dabei ging. Auch seiner Mutter hatte Heiko das erst erklären müssen. Im Vorschulalter! Und nachdem sie im Duden nachgeschlagen hatte, ob das stimmte, was ihr Sohn da in seinem kleinen Kopf verfestigte, war sie wieder einmal mehr beeindruckt von ihm. Das geschah des Öfteren, dass Heiko auf wundersame Weise ungewöhnliches Wissen an den Tag legte.
„Toll“, sagte der Feuerwehrmann dann nur noch kurz, strich Heiko lieb über den Kopf und verabschiedete sich von seiner Mutter und dem Mann, der sie verständigte. Den Einsatz musste Heikos Mutter nicht bezahlen, denn zum Glück gab es Zeugen, die bestätigten, dass der Junge wirklich fest steckte und es sich nicht um blinden Alarm oder gar mutwillige Irreführung handelte.
Heikos Wissensdurst war auch in dieser Zeit schon sehr konkret ausgeprägt. Sein ausgefallener Berufswunsch kam nicht nur daher, weil ihm vielleicht der besondere Name gefiel, oder weil er bemerkt hatte, wie er damit die Leute in Erstaunen versetzen konnte, sondern weil er einfach gerne den Dingen auf den Grund ging. Und da war der Beruf eines Forschers noch dazu in Verbindung mit Dinosauriern die geniale Lösung.
Seine Neugier und Lernbereitschaft begann schon als Kleinkind. Später versäumte er möglichst keine Beiträge aus der Tier- und Pflanzenwelt oder auch wissenschaftliche Sendungen im Fernsehen. Somit prägte sich seine Allgemeinbildung schon im Kindesalter immer mehr und besser als bei Gleichaltrigen aus. Dementsprechend bewegte er sich später bei den Themen Flora und Fauna ebenso sicher, wie bei Gesprächen über das Universum oder auch die Psychologie der Menschheit. Seinen Eltern machte er mit seinem Verhalten und den oftmals erstaunlichen Aussagen für ein Kind, die eben auf sein weit fortgeschrittenes Wissen beruhten, gelegentlich fast schon Angst. Sie taumelten in ihren verzweifelten Versuchen ihn zu begreifen zwischen „unser Sohn ist ein Genie“ und „unser Sohn ist uns unheimlich“.
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