Die Hebamme und Inhaberin der Klinik war in Art und Aussehen genau so, wie man sie sich vorstellte. Sie strahlte schon alleine durch ihre Erscheinung eine gewisse Ruhe aus, war äußerst gutmütig und stand zu jeder Tages- und Nachtzeit den jungen Müttern zur Verfügung. Ihr Beruf war tatsächlich ihre Berufung. Aus diesem Grund, weil sie eben immer in der Nähe sein wollte, wenn sie gebraucht wurde, befand sich ihre Wohnung praktischer Weise auch in dem Klinikgebäude. Sie hätte es niemals zugelassen, entfernt und unerreichbar für die werdenden Mütter zu sein und eine Wegstrecke zwischen sich und ihnen stehen zu haben.
Sie war mit Leib und Seele Hebamme. Sie lebte für die Geburten, die Babys und die Mütter und deren anschließenden Pflege nach der Entbindung. Jedem Wunsch der Frauen versuchte sie nachzukommen und zu erfüllen. Die Zufriedenheit der Mütter und ihre glückstrahlenden Augen, wenn sie das erste Mal ihr Baby in den Armen hielten, waren ihr Lohn genug für ihre aufopfernde Arbeit. Für dieses Engagement war sie bekannt, genoss großen Respekt in der kleinen Gemeinde, war dafür hoch angesehen und beliebt.
Nur wer in dieser Klinik das Licht der Welt erblickte, war ein echter Einwohner des Stadtteils, so hieß es scherzhaft. Selbst die ältesten des Vorortes konnten sich an keine Zeit erinnern, in der es die Klinik beziehungsweise die Hebammenfamilie und ihr Wirken nicht gegeben haben sollte. Die Familientradition Geburtshilfe begann ganz früher mit Hausgeburten bis die Klinik entstand und so wurde also auch diese kleine Klinik in der Familie immer weiter vererbt und fortgeführt. Auch seine Eltern kamen dort zur Welt.
Nach etlichen Mühen und Strapazen nun endlich in dieser Klinik angekommen, waren die Abstände der Wehen auf sechs bis sieben Minuten gesunken. Die Hebamme kam sofort herbei und erkannte gleich den Ernst der Lage. Sie strich der werdenden Mutter zur Beruhigung mit den Worten: „Ganz ruhig Kindchen, du machst das toll“, zärtlich über den Kopf.
Ohne weitere Verzögerungen liefen gleichzeitig die Vorbereitungen für die Geburt an, ohne dass jedoch die Mutter von der betriebsamen Hektik in ihrem Umfeld etwas merkte, um sie nicht damit anzustecken. Seine Mutter wurde behutsam, aber mit möglichst wenig Zeitverlust in ein Bett gebracht und in den Kreißsaal gefahren. Eine weitere Helferin war inzwischen schon unterwegs, um den Arzt über die anstehende Geburt zu verständigen.
Doch dann geschah das Unfassbare: Die Wehen setzten aus! Sie hörten einfach auf und waren komplett verschwunden. Die Hebamme und der bald eintreffende Arzt kannten dieses Phänomen selbstverständlich. Was sie aber nicht glauben wollten war, dass die Hochschwangere sich sehr gut fühlte und wirklich nichts mehr auf die beginnende Geburt hinwies. Aber es war so. Seine Mutter spürte tatsächlich gar nichts mehr, machte einen fitten Eindruck und auch der Wehenschreiber zeichnete keine Daten mehr auf. Alle Anzeichen, dass das Kind nun in Welt drängte, waren spurlos verschwunden, als ob es sie nie gab.
Der zukünftige Vater lief unterdessen noch verwirrter als zuvor den Gang in der Klinik auf und ab, in der Erwartung jeden Augenblick Papa zu werden. Hätte ihm irgendwer für die zurückgelegte Strecke Kilometergeld bezahlt, wäre die Summe ausreichend gewesen, um seinem Kind eine respektable Aussteuer anzulegen, behauptete er hinterher immer lachend.
Die Aufregung war allerdings für alle beteiligten schlagartig umsonst gewesen. Es geschah vorerst nichts mehr. Seine Mutter saß fortan vergnügt und entspannt und ein wenig aufgedreht im Bett. Der Arzt schaute ebenso ungläubig auf sie nieder wie die Hebamme. Er war etwas ratlos und wusste nicht so recht, was er mit der Situation anfangen sollte. Also untersuchte er die Mutter gründlich, konnte aber dabei keine Anzeichen diagnostizieren, die auf eine in Kürze bevorstehende Geburt hinweisen würden.
Der Arzt empfahl dann, dass sie einfach alle abwarten sollten, bevor sie irgendwelche weiteren Schritte unternahmen. Da es sich zu diesem Zeitpunkt offiziell um eine Frühgeburt handelte, war es natürlich aus medizinischer Sicht sowieso das Beste, wenn die Geburt noch aufgeschoben würde. Das war vom Wissensstand des Arztes her viel besser, als dass das Baby jetzt schon zur Welt kam. Denn Abwarten konnte unter diesen Umständen nur zum Vorteil des Kindes sein und unmöglich schaden.
Nur seine Mutter und der Vater wussten schließlich, dass die Zeit in Wirklichkeit reif gewesen wäre, um das Kind zur Welt zu bringen. Aus diesem Wissen heraus und der Sorge, es könnte dem Baby etwas geschehen, steigerte sich die Nervosität des Vaters bis in die Nähe eines Kreislaufkollaps. Er saß scheinbar ruhig auf dem Bett seiner Frau, die aus dem Kreissaal heraus auf ein normales Zimmer gebracht worden war. Innerlich jedoch brodelte es in ihm wie in einer Dampfmaschine. Er hätte den Arzt am liebsten über die wahren Umstände aufgeklärt und die kleine Notlüge gebeichtet, um ein Risiko für sein Kind zu vermeiden. Seine Frau hielt ihn jedoch entschieden davon ab.
Also verbrachte das Paar die gesamte Nacht gemeinsam in der Klinik. Noch einmal nach Hause zu gehen, stand vollkommen außer Diskussion. Der Vater saß auf einem Holzstuhl vor dem Bett seiner Frau und hielt ihre Hand fest. Es befand sich zwar noch ein zweites Bett in dem Zimmer, aber er wollte seiner Frau so nahe wie möglich sein. Und Ehebetten gab es in einer Klinik natürlich nicht. Da begnügte er sich dann lieber mit dem unbequemen Stuhl.
Der Mann fand keinen erholsamen Schlaf. Gelegentlich nickte er zwar kurz ein, aber beim geringsten Geräusch oder der minimalsten Bewegung seiner Frau schreckte er sofort aus dem leichten Schlaf hoch. Die werdende Mutter hingegen schlief selig und zufrieden die Nacht hindurch. Sonst geschah nichts. Ihr Kind hatte sich anders entschieden und wollte vorerst nicht mehr den wohligen Bauch der Mutter verlassen.
Am Morgen kam dann der Doktor, um sich nach dem Befinden der werdenden Mutter zu erkundigen. Ihr ging es soweit gut und sie war ausgeruht. Nur der Vater hatte durch die Haltung auf dem Stuhl ein steifes Genick bekommen und der fehlende Schlaf sah man ihm deutlich an. Was jedoch nur eine nebensächliche Tatsache war. Hätte es der Sache gedient, wäre er sofort bereit gewesen, jede Menge Genickschmerzen auf sich zu nehmen, wenn dafür endlich alles zum Ende käme und er wüsste, dass es seinem Kind wirklich gut ging.
Die Mutter fragte den Doktor, ob sie nicht nach Hause gehen könnte, weil ja offensichtlich keine Veränderung der Situation zu erwarten sei. Sie erklärte ihm, dass sie doch keinen weiten Weg hatten und bot ihm an, dass sie sofort wieder kommen könnten, wenn sich die Anzeichen für die Geburt erneut zeigten. Der Arzt war von dieser Idee natürlich nicht begeistert und wollte sie lieber in der Klinik behalten. Er hielt es für besser, sie weiter unter Kontrolle zu haben, um bei Bedarf sofort eingreifen zu können.
Nach längerem Flehen und in Absprache mit der Hebamme gab der Doktor ihrem Drängen aber doch nach. Die Mutter versprach ihm hoch und heilig, sich zu schonen und nichts Unvernünftiges zu tun. So entließ er sie mit der Ermahnung, dieses auch wirklich umzusetzen. Den Vater wies er zudem eindringlich an, er solle darauf achten, dass seine Frau keine unnötigen Anstrengungen unternahm. Dieser Hinweis an den Vater war angesichts dessen gesteigerter Fürsorge eigentlich unnötig gewesen.
Mit gemischten Gefühlen machte sich der Vater dann mit seiner hochschwangeren Frau auf den Heimweg. Die Tasche mit der Wäsche und den Toiletteartikeln ließen sie vernünftiger Weise gleich in der Klinik. Die mussten sie ja nicht unnötig hin und her tragen, weil klar abzusehen war, dass die Mutter bald zurückkehren würde.
Dann waren sie keine zwei Stunden zu Hause, da zeigte ihr Kind wieder, obwohl noch nicht einmal geboren, dass es kein Verständnis für normale Abläufe aufbrachte. Es setzten tatsächlich die Wehen erneut ein. Den Startschuss legte ein ganz kurzes Ziehen im Rücken wie am Morgen des vorherigen Tages, nur ein wenig heftiger. Die Mutter versuchte aber wieder, wie auch am Vortag sich zu beherrschen und sich vor ihrem Mann nichts davon anmerken zu lassen. Bei dem nächsten heftigeren Krampf bemerkte der dann jedoch, dass es losging, weil sie diesen nicht verheimlichen konnte. Der Schmerz war so stark, dass sie sich deswegen beugte, was ihm natürlich bei seiner ständigen, überempfindlichen Aufmerksamkeit nicht verborgen blieb. Sofort war er auf den Beinen und wollte zurück in die Klinik. Die Mutter dagegen sagte, sie wolle nicht schon wieder unnötig den beschwerlichen Weg in die Klinik zurücklegen und noch abwarten wolle.
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