Das führte zunächst einmal zu einer längeren und heftigen Diskussion, womit die Mutter ihr Ziel noch zu warten doch erreichte. Sie verhandelte mit ihrem Mann immer weiter und zögerte den Aufbruch in die Klinik mit allerlei Beschwichtigungen immer weiter hinaus. Dazwischen wurde sie in regelmäßigen Abständen von Wehen erfasst. Mit ihrer unvernünftigen Taktik gewann sie trotzdem Minute um Minute. Der werdende und ängstliche Vater verstand das Problem nicht. Was war da los? Warum wehrte seine Frau sich derart dagegen in die Klinik zu gehen?
Der Vater, der arme Kerl, saß so unruhig wie auf heißen Kohlen vor ihr und versuchte sie zu überreden loszugehen. Aber er hatte keine Chance seinen Willen, der auf Vernunft und Vorsicht baute, durchzusetzen. Er konnte sie ja schlecht über die Schulter legen und tragen. Bei jedem Krampf, den er ihr ansah, sprang er auf und rief aus: „Jetzt gehen wir aber!“ Seine Frau bagatellisierte die Sache dann jedes Mal, beruhigte ihn damit, indem sie sagte „gleich“ und erinnerte ihn an den gestrigen, unnötigen Versuch in die Klinik zu gehen. Diesen ersten, zwecklosen Anlauf konnte er nicht wegdiskutieren, den gab es unbestritten. So schlug seine Frau immer mehr Zeit heraus und brachte ihn schier um den Verstand vor Sorge um sie und ihr ungeborenes Kind.
Darauf hatte der ungeborene Sohn gewartet und schlug überraschend konsequent zu. Urplötzlich verringerten sich die Abstände zwischen den Wehen rapide. Ganz anders als beim ersten Schub am Vortag wurden die Zeiträume zwischen den Krämpfen schlagartig kürzer. Im Nu waren sie auf unter fünf Minuten gesunken. Die Häufung der Wehen nahm weiter zu und die Krämpfe verlängerten sich deutlich. Seine Frau befand sich bald nur noch unter diesen krampfartigen Schmerzen und hätte unmöglich einen Schritt gehen können. Der Vater brachte seine Frau mühevoll ins Bett, wobei er sie mehr trug, als dass sie selbst ging. Nun spitzte sich die Lage schnell ernsthaft zu und der Vater drehte angesichts der neuen Situation, vor der er hilflos stand, fast durch. Sein Sprachzentrum schien gelähmt wogegen seine Bewegungen Überaktivität zeigten. Als Nervenbündel stotterte er nur wild mit den Armen rudernd herum und hüpfte dabei von einem auf das andere Bein vor dem Bett umher.
Es war höchste Eile geboten, denn der werdenden Mutter lief mittlerweile auch schon das Fruchtwasser davon. Der Vater bekam die pure Panik, als er das sah. Für ihn war das überhaupt nicht gesund und sah bedrohlich aus. Er befürchtete, dass das Komplikationen ankündigen würde. Vom Verlauf einer Geburt hatte er schließlich nicht die geringste Ahnung.
Nachdem er seine stöhnende Frau ins Bett gelegt hatte, ihr unruhig zappelnd zusah ohne zu wissen, was er denn tun sollte, um ihr zu helfen, verstrich die Zeit weiter. Erst als sie zwischen zwei starken Wehen keuchte: „Hol´ den Arzt“, kehrte sein Verstand zurück. Seine Starre löste sich. Die unkontrollierten Bewegungen wurden koordinierter, er wurde wieder klar im Kopf und hastete hektisch los. Polternd stürmte er die Treppen hinunter auf die Straße hinaus und rannte in seiner Aufregung zuerst einmal ein paar Meter in die falsche Richtung.
Seine Mutter erzählte dann weiter den Teil der Geschichte, den sie selbst auch nur von den Erzählungen der Hebamme kannte. Am Tag nach der Geburt, als die Aufregung sich endlich gelegt hatte und durch die Freude über die Geburt des Kindes abgelöst war, schilderte ihr die Hebamme eindrucksvoll und sehr bildlich das Eintreffen ihres Mannes in der Klinik.
Der Mann, so schilderte die Hebamme, traf aufgeregt und völlig außer Atem in der Klinik ein. Er hüpfte wie das Rumpelstilzchen vor ihr umher, sagte sie lachend und stammelte kurzatmig unverständliches Zeug. Aus den Worten, die er von sich gab, hätte sie niemals schließen können, was er ihr mitteilen wollte. Nur weil sie ihn ja kannte und wusste, dass seine Frau hochschwanger war, erfasste sie sofort, um was es ging. Das zu erraten fiel ihr bei seinem Verhalten nicht schwer. Die Hebamme erfuhr in ihrem Beruf schließlich ständig die Kuriosität werdender Väter.
Weiter ergriff dann seine Oma das Wort. Sie war damals gerade auf dem Weg zu ihrer Tochter gewesen und traf zusammen mit der Hebamme und ihrem Schwiegersohn vor dem Haus ein. Sie lachte zunächst bei der Erinnerung an das Bild, das sich ihr da bot, bevor sie es beschreiben konnte.
Um die Wegzeit zu verkürzen, hatten sich die Hebamme und der Vater ein Fahrrad genommen. Auf dem Gepäckträger war der Notfallkoffer der Hebamme festgeschnallt, sie selbst saß schwankend auf der Querstange und sein Vater trat in die Pedale, als ob er ein Radrennen gewinnen wollte.
„Kinder bekommen ist anstrengender als zu machen“, warf der Vater bei den Darstellungen der Oma lachend ein.
Beim Bremsen vor dem Haus dann schrie die Hebamme erschrocken und laut auf. Denn wegen der beachtlichen Geschwindigkeit, die der Vater inzwischen erreichte, konnte er kaum rechtzeitig anhalten. Er zog alle Bremsen und presste gleichzeitig die Füße auf den Boden, sodass sie dabei fast stürzten. Mit akrobatischem Geschick und etwas Glück fing er jedoch den drohenden Unfall gerade noch ab.
Im ersten Moment erschrak sich die Oma, weil sie dachte, es sei etwas Schlimmes passiert. Doch dann wurde ihr schnell bewusst, was wirklich los war und womit diese Hektik zusammen hing. Gemeinsam mit ihrem Schwiegersohn und der Hebamme rannte sie nach oben in die Wohnung. Der Vater stürmte ohne auf die beiden Frauen zu warten mit großen Schritten voraus, wobei er zwischen den kurzen Atemstößen immer wieder rief: „Ich komme!“. Bei ihrem Eintreffen im Schlafzimmer bog sich die Mutter auf dem Rücken liegend schon unter Presswehen nach oben. Bereits im Treppenhaus hörten die drei wie die Mutter dabei ihre Schmerzen herausschrie.
Die Hebamme nahm sofort routiniert ihre Arbeit auf. Bei dem Zustand bedurfte es keiner Fragen mehr und es gab keine Zeit zu verschenken. Auch die Oma krempelte ohne zu überlegen oder zu zögern die Ärmel hoch, um die Hebamme zu unterstützen. Zu ihrer Zeit wurden die meisten Kinder noch selbstverständlich zu Hause geboren und so wusste sie einigermaßen Bescheid, worauf es ankam. Die Hebamme brauchte ihr nur gelegentlich kurze Anweisungen zu geben. Ansonsten arbeiteten sie prima Hand in Hand.
Nur der Vater rannte wie ein kopfloser Hahn im Zimmer umher. Er war so gar keine Hilfe, sondern behinderte sie eher. Bis die Hebamme ihn dann aus dem Raum verwies, weil sie einen nervösen Vater neben oder hinter sich nicht gebrauchen konnte. Egal wo er stand, der werdende Vater war einfach nur im Wege und seine Aufregung übertrug sich natürlich auf die Frauen und störte den Ablauf.
Bis endlich der Arzt eintraf, den die Hebamme, noch bevor sie zum Vater auf das Fahrrad stieg, verständigen ließ, brachte sie mit der Oma den Jungen mit vereinten Kräften auf die Welt. Wegen ihrer unzähligen Geburten war die Hebamme perfekt und erfahren, sodass eine unkomplizierte Geburt kein Problem für sie darstellte. Es war eine Bilderbuchgeburt und deswegen gab es keine Komplikationen, mit denen die Hebamme hätte fertig werden müssen. Der Junge kam nach den ganzen Unruhen, die er veranstaltet hatte, kräftig und gesund zur Welt.
Dem Doktor blieben nur die abschließenden Untersuchungen und Nachbehandlungen zu machen. Auch nach seiner medizinischen Sicht kam er zu dem Schluss, dass alles bestens war. Er gratulierte den jungen Eltern und wünschte ihnen und ihrem Sohn alles Gute. Bei der Hebamme bedankte er sich für die hervorragende Arbeit und dann machte er sich auf den Weg zurück.
Die Mutter hielt während dessen mit Tränen in den Augen ihren Sohn im Arm. Der Vater kniete ebenso gerührt vor dem Bett auf dem Boden und drückte die Hand seiner Frau. Die Anspannung war endlich von ihm abgefallen und er war unsagbar erleichtert und glücklich. Keiner konnte sagen, wen er in diesem Moment mehr anhimmelte. Seine Frau, die solche Qualen so tapfer ertragen hatte, oder seinen kleinen, frisch geborenen Sohn, der so verletzlich und zart in der Obhut seiner Mutter den Stress seiner Geburt verarbeitete.
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