Seine Eltern küssten sich gelegentlich flüchtig und unauffällig, denn 1961 war das Schmusen in der Öffentlichkeit bei den Alten und den Moralhütern noch verpönt und fast unanständig. Um Zärtlichkeiten auszutauschen war es ratsam, sich in möglichst versteckte Winkel zurückzuziehen und das nicht vor den Augen der Allgemeinheit zu tun. Der Wald und der Stadtpark wurden dafür am Abend von den verliebten Paaren gerne aufgesucht und genutzt. Diese Heimlichkeit erzeugte zwangsmäßig eine gewisse Romantik, die es wiederum schön machte, die junge Liebe zu erleben. Das waren noch die letzten Ausläufer der so genannten guten alten Zeit, in der es jeder tat, aber keiner darüber sprach. Erst die Hippybewegung mit der skandierten offenen Liebe brachte später den Wandel und die sexuelle Revolution.
Aus dieser Not heraus kamen seine Eltern im Laufe des späteren Abends auf die Idee, sich in den umliegenden Wald zurück zu ziehen, um sich ungestört und unbeobachtet gegenseitig Liebesbezeugungen zu geben. Die kurzen, gestohlenen Küsse im Zelt waren nämlich bald längst nicht mehr genug, denn die Frühlingsgefühle wirkten bei ihnen überwältigend. Der Alkohol, die Stimmung und das Küssen heizte sie an und sie wollten beide mehr. Durch einen Seitenausgang traten sie bald hinaus ins Freie und schlenderten Arm in Arm über den Festplatz um das Zelt herum. Die noch frische Abendluft vermochte ihre überhitzten Gemüter jedoch in keiner Weise abzukühlen.
An der abgelegenen, schmalen hinteren Stirnseite des Zeltes blieben sie dann im Finsteren eng umschlungen stehen und küssten sich innig. Hier war es recht dunkel und es bestand kaum die Gefahr, dass jemand vorbei kam und sie störte. So konnten sie ihre heißen Küsse ausgiebig genießen ohne Furcht entdeckt zu werden. Nach ein paar dichten Büschen endete der Festplatz und der düstere, weitläufige Wald begann. Sie waren hier also höchstwahrscheinlich unbeobachtet und konnten in der Dunkelheit das Leuchten in den Augen gegenseitig sehen, genießen und es weiter befeuern.
Sie befanden sich genau in Höhe der Kapelle, deren Musik hinter der dünnen Zeltwand deutlich und laut zu hören war. Die Küsse wurden immer länger, immer heißer und immer fordernder. Ihr gegenseitiges Streicheln und Liebkosen wurde intimer und das Verlangen nach mehr stärker und stärker. Ihre eifrigen Aktivitäten und Anstrengungen diesem „mehr“ nachzukommen steigerten sich stetig. Sie hatten beide das Gefühl, dringend etwas gegen dieses Verlangen tun zu müssen, sonst würde es sie verbrennen, ja umbringen. Die Natur schaltete das rationale Denken weiter ab und sie kamen an einen Punkt, an dem ihnen alles egal war.
Sein Vater besaß die Gabe, für aufkommende Probleme stets einen praktischen Ausweg zu finden. Also löste er sich aus der engen Umarmung seiner Liebsten und kniete nieder. Durch einen instinktiven Impuls begann er am Boden die Befestigung der Zeltplane zu lösen und hob diese ein wenig an. Dahinter zeigte sich ein Hohlraum und es kamen die Pfosten und Trägerbalken der Zeltkonstruktion zum Vorschein. Ein umsichtiger Blick in die dunkle Umgebung zeigte, dass keine Menschenseele in der Nähe war. Sie sahen sich entschlossen gegenseitig in die glühenden Augen und waren sich ohne Worte sofort einig, was sie tun würden.
Nacheinander krochen sie unter der geöffneten Plane hindurch an den Pfosten vorbei in den weitläufigen, dusteren, halbhohen Hohlraum unter der Bühne. Die Blaskappelle spielte ihre Musik genau über ihren Köpfen und das stampfen der Füße im Takt polterte auf den Blanken über ihnen. Durch die unzähligen Spalten in den Brettern drangen vereinzelte Lichtstrahlen der Scheinwerfer, die die Bühne erhellten, in ihr Versteck und schafften so eine romantische Beleuchtung, die man mit Absicht inszeniert, vielleicht nicht so perfekt hätte erzeugen können. Hier waren sie mit absoluter Sicherheit ungestört, unbeobachtet und mit sich alleine.
Im Halbdunkel des musischen Lichtspiels schlugen die beiden ihr Liebeslager im trockenen Gras auf. Es duftete nach Heu, Holz und Wiesenblumen. Die Kapelle spielte gerade den Klassiker Humpa-humpa-humpa-Täterä, als sie sich nebeneinander, der feurige Liebhaber halb über seine Freundin gebeugt, auf den Wiesenboden legten um ausgiebig zu schmusen.
Zu dem darauf folgenden „Auf und nieder, immer wieder“ gab das junge Pärchen dann endgültig dem Drang ihres Fleisches und der Natur nach. Das Ende des Liedes war auch gleichzeitig der Höhepunkt ihres überstürzten Beischlafes. Die über den Abend angestaute Lust ließ letztendlich nicht mehr viel Zeit für Romantik. Zunächst einmal ging es ihnen nur um ihre pure Befriedigung.
Die Menge im Zelt gab zum Ausklingen der Musik tobend Applaus, trampelte im Takt mit den Füßen und forderte lautstark eine Zugabe. Sein Vater und seine Mutter mussten ungehalten Lachen, ohne zu befürchten, dass es jemand hören könnte. Der Trubel im Zelt übertönte alles. Es war, als galt der euphorische Beifall und das Begehren nach mehr ihnen beiden und ihrer Leistung. Die Kapelle, ebenso wie auch der Vater, kamen der Aufforderung nach einer Zugabe gerne nach, fügte der bei seiner Erzählung zum Schluss mit breitem Grinsen an. Alkohol- und Erinnerungstrunken kicherte er: „Das waren doch noch schöne, gute Zeiten“ und dieser Abend soll demnach der Zeitpunkt seiner Zeugung gewesen sein. Dort im Verborgenen unbeobachtet und dennoch umgeben von einer Menschenmenge unter der Bühne, mit der musizierenden Kappelle direkt über ihnen!
Erleichtert und entspannt krochen sie alsbald aus ihrem Schlupfwinkel hervor, sich zuvor vergewissernd, dass keiner sie dabei beobachtete. Glücklicher Weise erwischte sie niemand, denn es wäre jedem klar gewesen, was sie in ihrem Versteck getrieben haben könnten. Da die Beiden noch nicht verheiratet waren, wäre das eine Sünde gewesen, von der die Eltern am Besten erst gar nichts erfuhren. Sein Vater lieferte seine Freundin danach noch rechtzeitig zu Hause ab, dass auch kein Groll bei deren Eltern wegen einer zu späten Heimkehr aufkam. Keiner ahnte dass „Es“ trotzdem schon geschehen war.
Da bewahrheitete sich ein abgewandeltes Sprichwort: Wo ein Wille ist, ist auch ein Gebüsch. Bald bemerkte seine Mutter, dass ihr unkeusches Treiben unter der Bühne ein Nachspiel in Form eines beginnenden Lebens hatte.
Es folgte nach dieser Erkenntnis direkt die unumgängliche Hochzeit. Alles andere wäre in dieser Zeit noch völlig undenkbar gewesen. Aber sein Vater stand auch ohne Diskussion zu dem gezeugten Kind und heiratete seine Freundin schnellst möglich.
Für die Augen der Öffentlichkeit war er dann allerdings damit ein Siebenmonatskind. Denn bis seine Mutter merkte, dass sie schwanger war und sie alle erforderlichen Vorbereitungen für eine Hochzeit erledigt hatten, vergingen gut zwei Monate. So blieben folglich bis zur Geburt des Kindes lediglich sieben Monate übrig, um dessen Zeugung vor der Gesellschaft in die Ehe zu verlegen. Das war damals allerdings eine gern angewandte Praxis, um die Moral und den schönen Schein der heilen Welt zu wahren.
Die Zeiten waren damals nicht einfach für ein junges Paar. Die wenigsten Familien besaßen genügend finanziellen Hintergrund, um ihren Kindern den Start zu erleichtern. Seine Eltern gingen beide einer Arbeit nach, aber große Sprünge konnten sie sich deswegen nicht erlauben. Der Vater verdiente sein Geld als Maschinenführer in einem Motorenwerk, seine Mutter war Arbeiterin in einer Fabrik für Gummierzeugnisse. Die erste Einrichtung ihrer gemeinsamen Wohnung mussten sie komplett auf Raten kaufen.
Überhaupt eine akzeptable Wohnung zu finden war schon alleine eine Hürde, an der das Paar lange scheiterte. Erst als seine Oma zu seiner Mutter damals sagte „frage doch mal bei der alten Reinhardt nach“ fand sie für sich und ihren Mann ein vernünftiges Heim. Die Familie Reinhardt war eine der reichsten in dem Vorort, die einige Mietshäuser besaßen. Und der Tipp der Oma führte zum Erfolg bei der Wohnungssuche.
Читать дальше