Dieses Bild, das die Hebamme schon so oft gesehen hatte, beeindruckte und rührte sie immer wieder aufs Neue. Das war das größte Geschenk für ihre Arbeit, das sie sich überhaupt vorstellen konnte. Solch eine Harmonie hatte etwas ganz wunderbares für sie. Mehr Zufriedenheit, Glück und Liebe zwischen einem Pärchen als in diesen Minuten nach der Geburt, gab es wohl nie mehr in deren Leben. Genau daran sollten sich dann alle wieder erinnern, wenn sie sich wegen irgendwelchen Kleinigkeiten in den Haaren lagen. Das würde sicherlich helfen, die Streitereien zwischen Paaren, die meist die bösen Worte, die dann fallen, nicht wert sind, sehr einzuschränken, sagte sie immer.
Diese gütige Frau, die nur für andere gelebt und sich für die Babys aufopferte, lebte leider selbst schon lange nicht mehr, als ihm der Tag seiner Geburt geschildert wurde. Aber seine Mutter und sein Vater ebenso wie hunderte andere Paare, denen sie ihre Kinder zur Welt brachte, würden sie niemals vergessen können. An diesem Geburtstag, nachdem die ganze Geschichte erzählt war, stießen sie alle zusammen zur Ehre und zum Gedenken auf die Hebamme an. Allen voran die Oma, die ihre Kinder auch mit der Hilfe dieser besonderen und gutherzigen Frau geboren hatte.
Der nächste große und bedeutende Schritt in seinem Leben war dann die Taufe. Wie es zu erwarten war und in den bisherigen, kurzen Lebenslauf passte, verhielt er sich auch dabei nicht wie gewöhnliche Babys. Der Gottesdienst in der Kirche lief bis zur Taufe normal ab. Beim verabredeten Zeichen schritten dann die Eltern mit den Paten und dem zu taufenden Kind vor zum Altar.
Bis dahin gab es keine Auffälligkeiten. Sogar das Baby verhielt sich erstaunlich still während der Andacht. Es herrschte eine angemessene, feierliche Stimmung in dem Gotteshaus. Doch als das Baby mit seinen noch unkontrollierten Augen den Herr Pfarrer erblickte, war die Ruhe gleich zu Ende. Es begann herzerbärmlich zu schreien, dass es in den Kirchenwänden hallte. Als ob es genau wüsste, dass jetzt etwas ganz unangenehmes folgen würde und dieser Mensch mit dem seltsamen Gewand ihm Wasser über den Kopf gießen wollte.
Darüber empörte sich natürlich niemand, denn es war ja bekannt, dass die meisten Babys bei der Taufe weinten, weil sie diese Prozedur als unbehaglich empfanden. Im Gegenteil zeigten einige Kirchenbesucher ein verständnisvolles, gut gemeintes Lächeln.
Und da trat wieder sein Gebaren gegen die Normalität hervor. In seinem chaotischen Charakter tat er genau das Gegenteil von dem, was gewöhnliche Täuflinge tun. Im Kontrast zu anderen Babys schrie und klagte er, als nichts passierte und zeigte ein breites Grinsen und quiekte, als der Pfarrer begann, das heilige Wasser über seinen kleinen Kopf laufen zu lassen.
Jedes Mal, wenn der Pfarrer andächtig sprach und kein Weihwasser über sein Köpfchen floss, schrie er jämmerlich. Sobald sein Kopf jedoch mit dem geweihten Wasser benetzt wurde, lachte er vergnügt. So nahm der Pfarrer, als er dieses Verhalten erkannte, wesentlich mehr Wasser in Anspruch als gewöhnlich. Denn er ließ fast ununterbrochen einige Tropfen davon über die Stirn des Säuglings laufen, um ihn zu beruhigen. Und damit gelang es wunderbar, dass der Säugling still lachte und der Pfarrer seine Worte ungestört predigen konnte.
Er beendete seine Taufe und die damit verbundene Predigt mit diesem kleinen Trick meisterhaft und ohne weiteres Babyweinen. Und während alle Beteiligten, die nahe genug dabei waren, ihr Lachen unterdrückten, wurde der Junge auf den Namen Heiko Arbel getauft. Eine solche Taufzeremonie erlebte der Pfarrer bis dahin noch nie, gab er hinterher amüsiert zu.
Seine Patentante, die eine jüngere Schwester seiner Mutter war, erzählte ihm diese Geschichte einige Male. Mit ihr verstand Heiko sich sehr gut. Sie war auch gerade mal sechzehn Jahre älter als er selbst, wodurch schon eine gewisse Verbundenheit entstand.
Vorerst war seinem Drang, Unordnung und Verwirrung in seiner Umgebung zu stiften, genüge getan. Zumindest besaß Heiko keine dementsprechenden Erinnerungen an seine Säuglings- und frühe Kinderzeit, die etwas anderes sagten. Das konnte aber auch daran liegen, dass er diese Phase genau genommen verschlafen hatte. Seine Mutter erzählte immer, dass, wenn es ihm langweilig wurde, oder er im Kindesalter auf etwas für ihn wichtiges wartete, er sich einfach zum schlafen legte, weil dann die Zeit schneller verging.
Dieses Verhalten war natürlich auch vollkommen anders als bei anderen, gewöhnlichen Kindern. Wenn sein Vater und seine Mutter mit ihm irgendwo zu Besuch waren, mussten sie nie befürchten, dass Heiko quengeln würde, wenn es ihm zu lang ging. Er legte sich einfach auf die Couch oder auch gerne unter den Tisch, wenn da ein flauschiger Teppich lag, und verschlief die Zeit, bis es endlich nach Hause ging.
Natürlich funktionierte das ebenso an Weihnachten. Wenn ein Durchschnittskind seine Eltern nervte, weil die Bescherung noch so lange auf sich warten ließ, legte Heiko sich in sein Bett und verschlief die quälende Wartezeit bis zum Abend.
Davon abgesehen war Heiko ein Baby, wie jedes andere auch. Er schrie die Nacht hindurch, um am Tage dann friedlich zu schlafen, hatte seine kleinen Hände immer genau da, wo sie nicht sein sollten und tapste mit den ersten, unsicheren Schritten oft in gefährliche Situationen. Heiko weinte wie jedes andere Kind beim Zahnen und machte die üblichen Qualen bei den Kinderkrankheiten durch. Weitere, extrem abnormale Eigenarten waren ihm über sich nicht erzählt worden. Als Kleinkind schien er noch ein einigermaßen typisches Verhalten gezeigt zu haben.
Heiko wuchs in einer gut funktionierenden und harmonischen Familie auf, war wohl behütet und hatte eine glückliche Kindheit. Er entwickelte sich, wurde älter, kam in den Kindergarten und anschließend in die Schule. Also bis dahin ein ganz normaler Lebensverlauf. Erst ab der Kindergartenphase und vor allem aus der Schulzeit waren in ihm konkrete Erinnerungen vorhanden, die seine Ungewöhnlichkeit ausmachten und unterstrichen.
So war ein Erlebnis recht deutlich in seinem Kopf, weil ihm das damals große Angst bereitete. Vielleicht war es auch gerade deswegen noch so gegenwärtig. Im Nachhinein reihte es sich allerdings als eher lustige Begebenheit in seine Kindergeschichte mit ein.
Mit seiner Mutter war er damals an einem sonnigen Tag unterwegs zum nahe gelegenen Kinderspielplatz. Auf dem Weg dorthin gab es eine Straßenbaustelle, wo ein großer Erdaushub gemacht wurde. Neben dem Loch im Boden lagerten Betonröhren, die dort in der Grube verlegt werden sollten. Heiko fiel natürlich nichts Besseres ein, als durch eine dieser Röhren hindurch zu krabbeln. Sie boten sich ja regelrecht als Tunnel zum durchkriechen und als Abenteuerspielplatz an.
Seine Mutter rief noch, er solle das sein lassen, und versuchte es zu verbieten, aber weil er etwas voraus gelaufen war, konnte sie ihn nicht mehr halten. Mit lautem Lachen, das in der Röhre herrlich hallte, was ihn zusätzlich anspornte, kroch Heiko in eine der Betonkanäle. Seine Mutter lief gleich zum anderen Ende, um ihn dort in Empfang zu nehmen.
Heiko strahlte und lachte, als er seine Mutter an seinem Ziel sah und versuchte sein Tempo zu erhöhen. Seine kleinen Hände platschten auf den Beton, die Beinchen schrammten mit den Knien und sein Rücken oben die Röhre entlang. Die Mutter dachte noch: „Die Hosen sind durchgescheuert, bis er da durch ist.“ Aber das war für sie nichts Ungewöhnliches mehr. Zerrissene Hosen und Pullover oder auch aufgeschlagene Knie und Schrammen am Körper waren bei ihrem Sohn keine Seltenheit. Er gewöhnte sie während seines Heranwachsens an diese Begleiterscheinungen.
Kurz vor dem Ende der Röhre stockte Heiko abrupt und sah seine Mutter dann mit großen Augen an. „Na komm weiter, komm zu Mami“, versuchte sie ihn zu locken. Aber Heiko bewegte sich keinen Millimeter mehr. Und als er zu weinen begann und fast in Panik schrie, wurde ihr mit Schrecken klar, dass er fest steckte. Sie musste handeln! Sofort beugte sie sich so weit es ging in die Röhre und versuchte ihn frei zu ziehen.
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