„Wir haben Kirschsaft getrunken“, beantwortete Heiko lallend endlich mit kindlicher Unschuld die Frage der Mutter mit Verzögerung und grinste die Erwachsenen dabei breit und etwas unnatürlich an.
Obwohl der Zustand der Jungs in einer gewissen Art sehr ernst war, mussten die Eltern doch lachen. Der Vater hatte beim ersten Blick die Kirschlikörflasche neben dem Schreibtisch entdeckt. Deswegen war ihm das Befinden der Jungs vor allen anderen klar. Die Flasche hatten die beiden Lausbuben in einem unbemerkten Augenblick wohl aus dem Barfach im Wohnzimmerschrank genommen und sich in aller Ruhe darüber hergemacht. Der spezielle Saft war schließlich süß und hatte einen herrlichen Kirschgeschmack, sodass er den Jungs vorzüglich mundete.
„Na hoffentlich wird euch beiden richtig übel“, grinste Heikos Vater in der Hoffnung, dass sich dann damit der Wunsch nach Alkohol für alle Zeit erledigt hätte.
Ob es nun im Nachhinein an diesem Erlebnis lag oder einfach an der Vernunft von Heiko, konnte er nicht sagen. Jedenfalls trank Heiko in seinem Leben, mit Ausnahme seiner ersten Hochzeit, nie mehr übermäßig Alkohol. Immer wenn er mal etwas Alkoholisches zu sich nahm, hörte er mit dem Trinken auf, sobald er eine Wirkung verspürte, und stieg auf etwas Antialkoholisches um. Es kam hinzu, dass Heiko nicht gerne die Kontrolle über sich und seine Umgebung verlor. Das war ihm sehr wichtig in seinem späteren Leben. Und betäubt durch Alkohol erfolgte der Verlust der Kontrolle natürlich zweifellos.
Auch an den sinnlosen Trinkspielen, die halbstarke Jungs gerne abhielten, beteiligte Heiko sich nie. Er suchte dafür auch keine Ausrede, sondern sagte offen, wenn sich die Situation dahin entwickelte, dass er da nicht mit machen würde. Diese klare Ansage wurde besser akzeptiert als eine fadenscheinige Ausrede, die jeder auch gleich als solche erkannt hätte. Und Heiko widersprach man nicht. Jeder, der ihn kannte, wusste, dass das keinen Zweck hatte. Wenn Heiko dann am Ende seine Freunde in erniedrigender und schändlicher Lage sehen musste, wie sie sich übergaben und völlig hilflos am Boden lagen, wurde er in seiner Entscheidung immer bestätigt. Diese Bilder gaben ihm die Kraft, auch weiterhin so zu handeln und sich nicht auf einen Gruppenzwang einzulassen.
Diese Vorfälle waren so die einschneidensten Erinnerungen aus Heikos Grundschulalter. Um allerdings eingeschult werden zu können, musste Heiko vorher noch einen Eignungstest absolvieren. Denn sein sechster Geburtstag fiel genau auf den Stichtag, der für die Einschulung maßgeblich war. Die Schulleitung war der Meinung, dass seine Eltern mit diesem Schritt lieber noch ein Jahr warten sollten oder aber Heiko einen Test machen sollte.
Seine Eltern glaubten, dass es gut sei, wenn Heiko so früh wie möglich zur Schule ging und wollten es versuchen. Zudem stärkte sie die Überzeugung, dass ihr Sohn intelligent ist und der Test für ihn bestimmt keine Schwierigkeit darstellen würde. Also beantragten sie diese Prüfung für ihren Sohn, die er dann auch ohne Probleme hervorragend hinter sich brachte. So wurde Heiko dann auch mit 6 Jahren eingeschult.
Der frühe Schulstart ging aber am Ende dann doch fast noch schief, weil Heiko scheinbar zu verspielt war. Zumindest erweckte er wegen seines Verhaltens für die Lehrerin diesen Eindruck. Seine Eltern wurden nach wenigen Wochen von Heikos Klassenlehrerin in die Schule bestellt, wo sie ihnen mitteilte, dass er kaum ruhig auf seinem Stuhl sitzen konnte. Er begann zum Beispiel einmal mitten in der Stunde mit der Lehrerin verstecken zu spielen, kletterte während des Unterrichts unter seinen Tisch, lief quer durch das Klassenzimmer spazieren oder schaute aus dem Fenster hinaus. Dass dies den Unterricht natürlich störte, war unbestritten. Wenn Heiko sich in dieser Beziehung nicht ändern würde, müsste er doch wieder die Schule verlassen und ein Jahr warten, drohte die Lehrerin. Bei seinen Leistungen allerdings gab es nichts auszusetzen. Er kam sehr gut mit dem Lehrstoff zurecht und war sogar meist vor seinen Mitschülern mit den Aufgaben fertig. Das gab ihm ja auch die übrige Zeit zum Spielen.
Genau das war der Punkt, der seine Eltern aufhorchen ließ. Wenn er seine Aufgaben beherrschte und schneller als seine Klassenkammeraden die Arbeiten erledigte, noch dazu mit guten Benotungen, fiel ihm die Schule offenbar leicht. Heiko belasteten die gestellten Aufgaben anscheinend nicht sehr und er erledigte sie spielend. Er war einfach nicht ausgelastet, folgerten seine Eltern daraus.
Sie setzten sich nach dem Gespräch und mit dieser Erkenntnis mit Heiko zusammen und erklärten ihm die Situation so, dass er als Kind diese auch begriff. Dabei vermieden sie solche Begriffe, wie „du musst lernen“. Stattdessen versuchten sie es über den Ansporn, für seinen Berufswunsch zum Ziel zu kommen und sein Verständnis zu wecken.
„Du willst doch Paläontologe werden?“
Er bejahte das mit großen Augen und heftigem Kopfnicken.
„Dann solltest du in der Schule aufpassen, fleißig sein und still auf deinem Platz sitzen bleiben. Denn wenn du keine guten Noten bekommst, kannst du kein Saurierforscher werden! Das musst du dir überlegen.“
„Aber ich kann doch alles“, kam noch ein schwacher, etwas hilfloser Einwand.
„Ja, das wissen wir, aber wenn du die anderen störst, musst du wieder von der Schule. Und es werden noch Sachen kommen, die du noch nicht weißt, dann ist es gut, wenn du aufpassen und zuhören kannst.“
„O.K., ich mache das schon“, beendete der kleine Kerl das Gespräch, als wäre er schon Profi.
Dieser Vorsatz galt dann auch tatsächlich für die gesamte Grundschulzeit. Heiko benahm sich ab sofort brav, bekam gute Noten und war kein Störenfried mehr. Natürlich wurde das in der Pubertät später etwas anders. Aber auch in diesem Zeitraum entwickelten sich Heikos Leistungen noch besser als beim großen Durchschnitt.
Weil Heiko die Grundschulzeit mit guten Noten beendete, durfte er ohne vorherigen Test direkt auf die Realschule wechseln. Die Chance ein Gymnasium zu besuchen, stand ihm auch offen, aber das wollte Heiko dann gar nicht mehr. Sein kindlicher Berufswunsch des Paläontologen war inzwischen ein wenig verblasst.
Im entsprechenden Alter begann Heiko sich wie alle Jungs auch für die Mädchen zu interessieren. Er entdeckte ihre Reize und wollte gerne eine Freundin haben. Doch er fand einfach nicht den Dreh heraus, wie das zu schaffen gewesen wäre. Heiko träumte immer nur davon, stand vielleicht auch einige Male ganz kurz vor seinem Ziel, aber versagte dann wegen seiner Schüchternheit.
Heiko war in so manche Schönheit aus seiner Klasse oder einer der Parallelklassen unsterblich verliebt gewesen. Wenn er wegen schwindender Hoffnung kapitulierte, versah Heiko sich übergangslos in die nächste. Er schwärmte nie für mehrere Mädchen gleichzeitig, aber der Wechsel zu einem neuen Schwarm fiel ihm nicht schwer.
Mit wenigen schaffte es Heiko tatsächlich sogar, sich nach der Schule zu verabreden, indem er bei einer Unterhaltung eben eine dementsprechende Bemerkung fallen ließ. Die direkte Frage nach einem Date brachte er nicht über die Lippen. Das funktionierte wenige Male. Aber auch nur deswegen, weil er die Mädchen aus seiner Schule kannte und sie keine Fremde waren, die er zur Kontaktaufnahme hätte ansprechen müssen. Auf diesem Gebiet war Heiko verklemmt und seine Psyche boykottierte die Erfüllung seiner Wunschträume permanent.
Mit der Auserwählten traf Heiko sich dann zum Spazieren gehen oder Eis essen. Aber er ging bei diesen seltenen Gelegenheiten von sich aus keinen Schritt weiter. Noch nicht einmal in den Arm versuchte er dabei eines der Mädchen zu nehmen. Und das jeweilige Mädchen ergriff ebenfalls nicht die Initiative, um ihm den Weg zu erleichtern. Dabei achtete Heiko sehr angestrengt, die Chance darauf nicht zu verpassen. Heiko hatte zu großen Respekt und Angst, durch eine ungeschickte Handlung etwas falsch und damit alles kaputt zu machen. Also wartete er auf eine günstige Gelegenheit, oder dass das Mädchen den zweiten, entscheidenden Schritt tat. Was allerdings nie eintrat und damit sein Zögern nie endete. So verstrich seine Schulzeit eben auf diesem Gebiet ungenutzt und Heiko blieben immer nur seine heißen Träume bei den Tagfantasien und seine Musik, in denen er stets erlebte, wie schön es wäre, wenn er eine Freundin sein eigen nennen könnte.
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