Eine Zeit lang hatte sie darüber nachgedacht, ins Fitnessstudio zu gehen und mehr auf ihre Ernährung zu achten. Ihr fehlte aber für das Fitnessstudio die Zeit und großartig an ihren Essgewohnheiten etwas zu ändern hatte sie einfach keine Lust. Sie hatte schon viele Gespräche mit Freundinnen und Patientinnen über das sich im Alter ändernde Äußere geführt, und alle gaben ihr zu verstehen, dass die Änderungsprozesse etwas völlig Normales wären, und sie sich keine Sorgen machen sollte. Clarissa trug ihr Haar inzwischen kurz, und das Aussehen ihrer Haare war weit entfernt von ihrem früheren Mädchenhaar. Es war nie füllig und stark gewesen, sie hatte aber früher sogar Zöpfe getragen und ihr langes Haar offen gelassen. Nun trug sie eine Tönung auf, um die Graufärbung, die bei jeder Frau ihres Alters eintrat, zu übertünchen. Ihre Bewegungen waren träger geworden, sie sprang nicht mehr so energiegeladen in der Gegend herum und ließ sich auch nicht mehr so sorglos auf ihre Terrassenliege fallen, wie sie das früher getan hatte. Wenn sie stand, stand sie leicht gebeugt. Es bereitete ihr Schwierigkeiten, ganz gerade zu stehen. Wenn sie sich streckte, um ein Geradestehen zu erzwingen, spürte sie einen Stich im Rücken. Also ließ sie das und stand lieber leicht gebeugt. Wenn Sophia oder Ole sie aufforderten, doch gerade zu stehen, sagte sie zu ihnen:
„Ich bin jetzt über 60 und kann es mir deshalb erlauben, krumm zu stehen, werdet Ihr erst einmal so alt!“ Sie hatte gelernt, sich mit den Zipperlein, die das Alter so mit sich brachte, zu arrangieren, und sie weinte ihrer Jugend keine Träne nach. Sie kompensierte alle vermeintlichen Makel, die sie nach außen hin aufwies, mit ihrem Intellekt. Sie war in der Lage, über ihren Status zu reflektieren und darüber mit Fiete zu reden. Das war eben eine Qualifikation, die das Alter mit sich brachte, und die wollte Clarissa nicht missen.
Sie öffnete ihre Augen und blickte zu Fiete, der auf der Liege neben ihr lag. Sie sah ihn an, ohne dass er das bemerkte. Sie fand, dass Fiete für seine 63 Jahre gut aussah, und als er schließlich mitbekommen hatte, dass Clarissa ihn ansah, lächelte er sie an. Clarissa streckte ihren Arm zu ihm aus und Fiete nahm ihre Hand in seine. Sie redeten immer noch nicht und schlossen am Ende wieder ihre Augen.
Fiete hatte vor zwanzig Jahren einen Arbeitsunfall auf seiner Baustelle erlitten und zwar auf die gleiche Weise wie damals Gerd Petersen, der dabei allerdings tödlich verunglückte. Sie hatten damals auf ihrer Baustelle noch einen alten Seilzugbagger, dessen Seil riss. Das Bauelement, das an ihm hing, fiel herunter und stieß Fiete dabei von dem schon errichteten ersten Element. Beim Aufprall auf den Boden wurde seine Hüfte zertrümmert, und er hatte große Schmerzen. Beinahe drei Monate verbrachte er im Krankenhaus und in der Rehabilitation, bis er wieder laufen konnte. Stockend zuerst und unter Zuhilfenahme eines Gehstocks, danach aber immer besser. Ein kleiner Gehfehler blieb zurück, den er bis in die Gegenwart beibehielt, aber damit konnte er gut leben.
Auch an Fiete war das Alter nicht spurlos vorüber gegangen. Er hat insgesamt an Gewicht zugelegt, war stämmiger geworden. Im Gesicht war er voller geworden und hatte ein Doppelkinn. Seine Haarpracht war nie besonders ausgeprägt gewesen, sie hatte sich zu einem Kränzchen entwickelt. Sein Rumpf war in die Breite gegangen und seine Arme hatten an Umfang zugenommen, genauso wie seine Oberschenkel. Auch er hatte eine leicht gebeugte Haltung, wenn er stand, und das Gehen fiel ihm nicht so leicht wie früher. Das lag nicht nur ein seinem leichten Gehfehler. Aber Fiete klagte nicht, er war mit sich zufrieden und sehnte den Zustand des Jungseins nicht herbei. Er kompensierte seine vermeintlichen Defizite auch mit seinem Intellekt genauso wie Clarissa, und er verstand es, gut damit zu leben.
„Haben wir eigentlich alles für heute Abend, wenn die Kinder kommen?“, fragte Fiete Clarissa und Clarissa antwortete:
„Ich habe während der letzten drei Tage eingekauft und hoffe, an alles gedacht zu haben, Du musst höchstens nach den Getränken schauen!“ Aber Fiete wusste, dass er an Getränken alles im Hause hatte, was benötigt wurde. Ole und Ralph waren Biertrinker, und ihre Frauen tranken Weißwein, in der Beziehung hat sich gegenüber früher nichts geändert. Clarissa hatte mit Marias Hilfe, die seit ihrer Zeit als Kinderfrau immer mal wieder vorbei kam und im Hause Kleen nach dem Rechten schaute, Schnitzel mit Kartoffeln und Salat zubereitet. Sie wusste, dass ihre Kinder dieses Gericht besonders gern aßen, zumal Maria bei der Zubereitung beteiligt war, und sie zu Maria während ihrer gesamten Kindheit ein sehr gutes Verhältnis hatten, sie hatten sie geradezu geliebt.
Krzystof, Marias Sohn und der frühere Spielkamerad von Ole, war nach Süddeutschland gezogen und lebte dort mit seiner Familie. Ab und zu telefonierten Ole und er miteinander und fragten sich gegenseitig, wie es zu Hause so liefe. Clarissa und Fiete streckten sich noch einmal auf ihren Liegen und standen dann auf. Fiete half seiner Frau, den Terrassentisch zu decken. Sie nahmen dazu Clarissas Aussteuergeschirr, Clarissa wusste nicht, wann sie es sonst auf den Tisch bringen sollte. Nachdem sie mit dem Tischdecken fertig waren, schellte es, und Sophia und Ralph trafen ein. Die Freude war auf beiden Seiten immer riesig, wenn sie sich trafen, und sie fielen sich gegenseitig in die Arme. Sie setzten sich auf die Terrasse, und es vergingen keine zehn Minuten, als es noch einmal schellte und Sibylle und Ole vor der Tür standen. Es vollzog sich auch bei ihnen das immer gleiche Begrüßungsritual, und nachdem sie sich auch auf der Terrasse alle geherzt und geküsst hatten, gab Fiete jedem etwas zu trinken und stieß mit ihnen auf den schönen Abend an, der noch vor ihnen lag. Sophia begann gleich, von Hamburg zu erzählen und wie aufreibend doch ihr Job wäre, was Ralph nur bestätigte. Beide machten sie aber ihre Arbeit mit viel Freude und Enthusiasmus, Auch Sibylle und Ole berichteten von ihren Jobs. Sibylle klagte über die immer frecher werdenden Kinder und Ole erzählte von dem jüngsten Erdbeben in Italien. Bei dem Erdbeben waren über dreihundert Tote zu beklagen! Als sie alle mit Erzählen soweit fertig waren, sagte Clarissa mit einem Mal:
„Ich habe heute Nachmittag meine Praxis an eine Studentin der Veterinärmedizin aus Hannover verkauft, sie wird in einem Monat ihr Examen in der Tasche haben!“ Sie sagte zunächst nicht mehr und schaute in die versteinerten Gesichter und auf die offenen Münder der Kinder.
„Du hast was?“, schrie Sophia beinahe und auch Ole rief entsetzt:
„Sag, dass das nicht wahr ist!“
Für beide brach damit eine Welt zusammen, ihr ganzes bisheriges Leben war immer verknüpft gewesen mit ihrer Mutter als Tierärztin und deren Praxis. Clarissa sagte:
„Ich bin jetzt in dem Alter, in dem ich ans Aufhören denke, genau wie Euer Vater, wir wollen uns beide zur Ruhe setzen und uns ein schönes Leben machen.“ Nachdem Sophia und Ole ihre ersten Entsetzensempfindungen verdaut hatten, fragte Sophia:
„Du auch, Papa, wann willst Du aufhören?“ Fiete antwortete:
„Ich werde innerhalb der nächsten Woche meine Firma auf Szymon übertragen, er hat sich in den Jahrzehnten, die er inzwischen bei mir arbeitet, sehr gut bewährt, er hat mich insbesondere in der Zeit meines Unfalls so gut vertreten, dass manche Auftraggeber nicht mehr nach mir, sondern nach ihm verlangen, wenn sie etwas zu ihrem Bauprojekt zu besprechen haben.“
„Dann seid ihr also bald Rentner und könnt Euer Leben genießen!“, rief Sophia aus.
„Ich glaube, dass wir beide das noch gar nicht richtig realisieren, was es heißt, nie mehr zu irgendwelchen Außenterminen zu fahren oder sich mit den Kunden streiten zu müssen, wir werden den Übergang ins Rentnerdasein so sanft wie möglich vollziehen, wenngleich bei mir heute Nachmittag schon die Weichen gestellt worden sind“, sagte Clarissa.
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