1 ...6 7 8 10 11 12 ...32 Vor der Brücke war auf dem der Stadt abgewandten Ufer des Flusses eine wehrhafte Bastion errichtet worden, deren starke Mauern zusätzlich von einem tiefen, von der Bega abgeleiteten Graben geschützt wurden. Nur über eine breite Zugbrücke gelangte man in das Außenwerk des Stadttores. Innerhalb dieser Bastion erhob sich ein mächtiger, vier Stockwerke hoher Turm, von dessen drittem Stockwerk aus eine militärischen Zwecken dienende Holzbrücke zu einem weiteren Turm auf dem Wall und von dort zum eigentlichen Stadttor führte. Das war also das Langenbrücker Tor. Es hatte nichts mit dem gemein, an das ich mich erinnerte.
Noch vor der Zugbrücke standen Soldaten, die jeden kontrollierten, der in die Stadt hinein wollte. Zwei Soldaten und ein Offizier überprüften gerade den Karren eines Händlers, als wir uns näherten. Als der Offizier uns bemerkte, löste er sich von der Gruppe und kam auf uns zu.
„Ah, Bruder Reinald, habt Ihr einmal wieder den Weg in die Stadt gefunden? Lockt Euch das bunte Treiben des Marktes aus Eurer Klause?“ begrüsste er den Mönch freundlich.
„Warum sollte ich sonst in die Stadt kommen?“ lachte Reinald. „Etwa, um Euch an Eure Sünden zu erinnern und Euch die Leviten zu lesen?“
Der Offizier hob abwehrend die Hände und verdrehte die Augen.
„Erbarmen! Verschont mich. Wir haben wahrlich Pfaffen genug in der Stadt, die sich dieser Aufgabe jeden Sonntag mit Hingabe widmen. Wollte ich allen gerecht werden und bei jedem die Beichte ablegen, hätte ich viel damit zu tun, vorher zu sündigen.“
„Seid unbesorgt, Volkwin, ich werd‘ Euch nicht behelligen. Heut dien‘ ich nur als Führer für meine Begleiter hier.“
Erst jetzt schien uns der Offizier wahrzunehmen. Seine Miene verdüsterte sich bei unserem Anblick. Argwöhnisch musterte er uns von oben bis unten.
„Hmmm, ein Söldner und seine – Gespielin. Ich muss schon sagen, Bruder Reinald ....“
Er beendete den Satz nicht, sondern wandte sich stattdessen an mich und fragte barsch:
„Wer seid ihr und was führt euch her?“
„Ich bin ein Bogenschütze und dies ist mein Weib, so Ihr gestattet“, entgegnete ich bemüht freundlich. „Ich habe schon an mehreren Höfen die Soldaten in der Kunst des Bogenschießens unterrichtet. Zur Zeit suche ich eine neue Anstellung. Vielleicht hat ja der Magistrat Eurer Stadt Verwendung für meine Dienste. Im übrigen wollen wir den Markt Eurer Stadt besuchen.“
Die Miene des Offiziers blieb abweisend.
„Ich glaube nicht, dass wir auf die Dienste eines Söldners angewiesen sind“, meinte er, wobei er das Wort Söldner besonders abfällig betonte. „Was Euren Marktbesuch angeht, so verfügt Ihr hoffentlich über eine gut gefüllte Geldkatze, denn Lemgo ist ein teures
Pflaster. Wer etwas erwerben möchte, ist stets gern gesehen. Bettler und Beutelschneider hingegen sind nicht wohlgelitten in unseren Mauern.“
Der Kerl war nicht eben freundlich. Ich fragte mich, wie er uns wohl behandelt hätte, wären wir nicht in Begleitung des Mönches gewesen. „Lasst es gut sein, Volkwin“, Reinald legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich verbürge mich für die beiden. Ich hoffe, das reicht Euch.“
Volkwin nahm die Fürbitte mit einem gleichmütigen Achselzucken zur Kenntnis.
„Vor Eurer Gutmütigkeit sollte man Euch beschützen, Reinald. Ich hoffe nur, Ihr wisst, was Ihr tut. – Also, Söldner, bedankt Euch bei dem Kuttenträger.“
Ich nickte ihm zu und wollte an ihm vorbeigehen, als er mich mit ausgestrecktem Arm aufhielt.
„Halt, mein Freund, nicht gar so hurtig! Den Wegezoll habe ich Euch nicht erlassen. Für Euch und Euer Weib sind das sechs Pfennige.“
Ich nestelte den Geldbeutel von meinem Gürtel und fragte mich verzweifelt, wie viel wohl darin sein würde. Und wie, zum Teufel, sahen Pfennige aus?
Kaum dass ich den Beutel gelöst hatte, nahm ihn mir Silvia aus der Hand, holte ein paar Kupfermünzen heraus und drückte sie dem Offizier mit einem freundlichen Lächeln in die Hand.
Der hatte den Vorgang erstaunt zur Kenntnis genommen und begann zu lachen. Zu mir gewandt meinte er:
„Ihr mögt ja ein Meister des Bogens sein, Söldner, doch der Meister Eurer Börse seid Ihr jedenfalls nicht. Da ich selbst verheiratet bin, bin ich fast geneigt, Euch zu glauben, dass dies Euer angetrautes Weib ist.“
Immer noch lachend drehte er sich zu den Wachsoldaten um.
„Lasst sie passieren!“
An den mit Hellebarden bewaffneten Männer vorbei gingen wir über die Zugbrücke in die Bastion. Als wir das Tor durchschritten hatten, standen wir auf einem großen Platz, in dessen Mitte sich ein quadratischer Turm erhob. In den beiden unteren Stockwerken konnte ich keinen Eingang entdecken. Hier befanden sich lediglich ein paar Schiessscharten. Zugänglich war er wahrscheinlich nur über die Holzbrücke, die ich von draußen gesehen hatte. Oben, an den ungefähr fünf Meter hohen Mauern der sechseckigen Bastion, verlief ein überdachter, hölzerner Wehrgang, der durch drei Holzstege mit dem Turm verbunden war. Der Ausgang auf die Begabrücke befand sich auf der uns gegenüber liegenden Seite der Anlage und wurde vom Turm teilweise verdeckt. Als wir durch den Torbogen der Bastion auf die Brücke gingen, sah ich, dass hier eine weitere Sicherung eingebaut war: Ein starkes Fallgitter, welches aber nur von der der Stadt zugewandten Seite aus bedient werden konnte. Selbst wenn es Angreifern gelungen wäre, in das Außenwerk einzudringen, so wäre ihnen dennoch der Zugang zur Brücke versperrt gewesen. Überdies hätten sie in dem Zwinger von allen Seiten beschossen werden können.
Zusammen mit anderen Marktbesuchern, Händlern und Bauern überquerten wir die Brücke. Wächter gab es hier keine. Nur auf dem hölzernen Steg über uns stand ein Soldat und sah gelangweilt auf das Treiben herab. Mit dem Überschreiten der Brücke waren wir aber noch längst nicht in der Stadt. Bevor wir das eigentliche Stadttor erreichten, hatten wir das Tor in den Palisaden des Walles zu passieren. Wie wir erst jetzt sahen, verlief jenseits des Walles überdies ein zwanzig Meter breiter innerer Graben, der Wall und Stadtmauer voneinander trennte. Die Mauer selbst mochte an die vier Meter hoch sein und war mit offenen Wehrgängen versehen.
Um in die Stadt zu gelangen, mussten wir die heruntergelassene Zugbrücke des Torturmes überqueren, die Stadt und Wall miteinander verband. Dieses Tor wurde wieder bewacht. Zwei Soldaten lehnten lässig an der Turmmauer und betrachteten desinteressiert die Menschen, die an ihnen vorbeizogen, während ein paar ihrer Kameraden es sich in einer sonnigen Ecke gemütlich gemacht hatten und würfelten. Wir durchschritten den Torbogen und betraten aus seinem Schatten heraus die Stadt.
Rechts und links der breiten gepflasterten Straße standen vereinzelt große Fachwerkhäuser, deren Dielentore darauf schließen ließen, dass es sich um Ackerbürgerhäuser handelte. Was mich am meisten erstaunte, waren jedoch die weiten Freiflächen, hauptsächlich Gärten und Viehweiden, die sich innerhalb der Mauern der Stadt auftaten.
Das Straßenpflaster war stark gewölbt und reichte nicht bis an die
Häuser, sodass sich vor den Gebäuden ein Streifen unbebauten Landes entlang zog, auf dem etliche Bäume standen. Überall vor den Häusern lagen Dunghaufen, die ihre flüssigen Bestandteile in die neben der Straße verlaufenden Gräben ergossen. Ein geflügeltes Wort dieser Zeit behauptete ‚Stadtluft macht frei’ – das mochte nach den Maßstäben dieser Zeit stimmen, aber sie stank zum Himmel.
„Steht nicht herum und haltet Maulaffen feil! – Oder wollt Ihr unter die Räder kommen?“
Hinter mir hielt ein Pferdefuhrwerk, dessen Kutscher mich zornig ansah.
„Nun glotzt nicht blöde, gebt endlich den Weg frei!“ herrschte er mich an.
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