Ulrich Hutten, Robert Morgenroth
Der Alp und die Kinder
Oder: Eine andere Welt ist möglich
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Ulrich Hutten, Robert Morgenroth Der Alp und die Kinder Oder: Eine andere Welt ist möglich Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel 1 – Fehlfarben
Kapitel 2 – Nackte Landung
Kapitel 3 – Der Körper will nicht
Kapitel 4 – Von vorn
Kapitel 5 – La Tedesca
Kapitel 6 – Scheidewege
Kapitel 7 – Neues Deutschland
Kapitel 8 – Über Scherben, barfuß
Kapitel 9 – Film ab
Kapitel 10 – Bleibende Verbindungen
Kapitel 11 – Generationenwechsel
Kapitel 12 – Tote Väter, tote Söhne
Kapitel 13 – Eine andere Welt ist möglich
Chronologische Zeitleiste
Abkürzungen und Erläuterungen
Auf ein allerletztes Wort
Impressum neobooks
Vieles stimmt in dieser Geschichte, manches ganz bestimmt. Das meiste ist natürlich erfunden. Aber alles ist wahr. Dass jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen purer Zufall sein muss, versteht sich von selbst. Falls sich jemand erkennen sollte, kann es nur an ihm liegen. Von mancher historischen Gegebenheit sind wir in dichterischer Freiheit abgewichen, von den meisten nicht. Erneut haben wir uns daran erfreut, Fantasie und Realität, Fakten und Fiktion ineinander zu verweben. Das würden seriöse Journalisten wie Dr. Leonhard Ross und Paul Wiesensee nie tun.
Robert Morgenroth und Ulrich Hutten
„ Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm , um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.“ – Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, 1852, MEW 8, S. 115
„ Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“ – Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, 1846, MEW 3, S. 35
Karl Marx (geboren 1818, gestorben 1883)
Berlin, Hauptstadt der DDR, im November 1986
Zum ersten Mal spürt er die Stille. Eigenartig, dass sie ihm nie aufgefallen ist. Eine bedrückende Stille, trotz der vielen Menschen. Wie ein schwarzes Loch. Sie verschluckt das Schlüsselklappern des Mannes vor ihm und das Geräusch seiner eigenen Schritte. Sie gehen die immerbraunen Wände der Gänge entlang, kommen an der Stehzelle vorbei. Hier sitzt keiner, hier wird gestanden, bis einer umfällt. Die Tür zum Verhörraum öffnet sich, drinnen warten sie auf ihn.
„Willkommen, Genosse Brause“, hört er einen der beiden Kollegen, unter dem Tisch ordentlich zusammengestellte Beine in Bügelfaltenhosen, über dem Gesicht dicke Brillengläser, ein schmaler Typ. Er kennt ihn nicht. „Setzen Sie sich. Das hier alles ist Ihnen ja nicht unbekannt.“
Es ist absurd, denkt Werner, völlig absurd. Er ist es, der sonst hinter diesem Tisch sitzt. Er sollte es sein, der hier die Fragen stellt.
Er war wieder die ganze Nacht unterwegs gewesen, im Einsatz. Als sie ihn heute Morgen gegen fünf aus dem Bett geklingelt hatten, war er gerade erst richtig eingeschlafen. Von der Straße herauf Motorengeräusch. ,Es muss etwas Besonderes vorgefallen sein, wenn sie mir ein Auto schicken.’ Eigentlich hatte er einen freien Tag. Seine Frau schlief grummelnd weiter. Als er unten vor der Tür den fensterlosen Barkas der Abteilung XIV gesehen hatte, wusste er, die Männer hatten einen anderen Auftrag als ihn zu seiner Sonderdienststelle zu bringen. Mit ihnen zu reden war sinnlos. Sie sagten ihm nur, es gehe darum, einen Sachverhalt aufzuklären. Und dann schafften sie ihn ausgerechnet in das Stasi-Gefängnis, in dem er selbst schon so oft Gefangene vernommen hatte.
Kontrolle zur Hofeinfahrt, vertraute Gesichter. Aber heute Morgen schien es plötzlich, als würden sie ihn nicht mehr kennen, als hätte er irgendetwas an sich, das ansteckend sein könnte. Sie behandelten ihn vollkommen korrekt, aber sie ersparten ihm nichts. Man nahm ihm zuerst seine Makarow ab, verschloss sie sorgfältig im Waffenschrank, dann seine Effekten, seine Uhr, sein Portemonnaie und die Halskette aus Messingplättchen, die ihm seine Frau in besseren Ehezeiten zu irgendeinem Hochzeitstag geschenkt hatte. Gegen Quittung natürlich. Sie hinterlegten alles säuberlich im Regal mit der Nummer 98. Er musste sich nackt machen, völlig, und den Geruch seines Geschlechts, seiner Haut und seines Hinterns auf dem Tuch hinterlassen, das sie ihm mit einem Schemel unterschoben und dann sorgfältig in einer Glaskonserve verschlossen. Selbst die erkennungsdienstliche Behandlung in der Fotozelle ließen sie nicht aus: Klick um Klick machten sie aus ihm, dem Genossen und Kollegen Werner Brause, einen aktenkundigen Untersuchungshäftling, eine Nummer in grauer Anstaltsunterwäsche und einheitsblauem NVA-Trainingsanzug.
„Na klar, klar kenne ich das alles hier. Aber Sie nicht, Sie kenne ich nicht“. Werner raunzt den Kollegen auf der anderen Seite des Tisches sofort an und schaut ihm mitten ins Gesicht, direkt in die ausweichenden Augen hinein. Ein Agent agiert, auch in der Defensive.
Werner setzt sich aufrecht, schiebt sein Kinn nach vorn und wendet sich dem anderen Mann zu, offenbar der Ältere und Ranghöhere. Bauchansatz, teigig belanglose Gesichtszüge und schütteres Haupthaar sprechen dafür, dass er sich als lang gedienter Angehöriger der bewaffneten Organe lieber einem ungestörten Rentnerdasein in seiner Datsche nähern würde als diesem Verhör. Ihm kommt Werner ganz freundlich, fast familiär: „Hören Sie, auch wenn wir uns nicht persönlich kennen, wir sind ja Kollegen. Oder hat man Sie nicht informiert? Ich wüsste nun wirklich gerne, was das hier soll.“
Es ist nicht gelogen. Werner hat keine Ahnung. Oder vielmehr, er hat tausend. Er weiß, dass diese Stasi-Kollegen irgendetwas wissen, aber er weiß nicht was.
Die Vernehmung beginnt nicht wie sonst üblich: Der Schlaksige tritt nicht von hinten an ihn heran, fasst ihn nicht an die Schulter, um zu demonstrieren, dass man die totale Kontrolle über ihn hat. Nein, sie lassen es ganz höflich und förmlich angehen. Name? Werner Brause. Geboren? 1942. Wo? In Berlin. Vater? Rudolf Brause, Schlosser, geboren 1905, in Berlin. Mutter? Gertrud Brause, gebürtige Perlitz, Arbeiterin, geboren 1914, ebenfalls in Berlin. Und so fort. Bis hin zu Bruder, Frau und Tochter . Dann geht es los. Belangloses zunächst, wie bei einer Unterhaltung in der Kantine. Es geht um den letzten Urlaub an der Ostsee mit seiner Frau, um die Gespräche dort, um Urlaubsbekanntschaften. Durch Werners Kopf schießen Erinnerungen an typische Sommerferienerlebnisse, Ausflüge, Strandleben, abendliche Geselligkeit, Besäufnisse. Eigentlich nichts Besonderes. Er antwortet brav auf ihre Fragen, erzählt alles, was sie wissen wollen. Alles völlig harmlos.
„Haben Sie immer noch keine Ahnung, warum Sie hier sind?“ Der Schüttere pirscht sich heran. Werner schweigt. „Weil wir jeden Verdacht gegen Sie ausräumen wollen“, fährt der Schüttere schließlich fort. „Sie wissen doch selbst, wie es ist, gerade jetzt wird so viel subversiv herumgeredet. Vor allem über unsereins. Kürzlich haben wir aus Ihrem Wohnblock von einem Gespräch gehört. Da hat eine Nachbarin Ihre Frau gefragt, warum Sie nachts am Kfz-Kennzeichen Ihres Autos herumschrauben. Ihre Frau hat geantwortet, das habe sie noch gar nicht bemerkt. Sie wisse nichts davon.“
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