1 ...7 8 9 11 12 13 ...32 Entschuldigend hob ich den Arm und trat zur Seite.
„Hält sich für einen Herrn, nur weil er einen Bogen trägt! – Arbeitsscheues Gesindel!“ hörte ich den Kutscher knurren, als er an mir vorbeifuhr.
„Wir sind hier in der Neustadt“, erklärte Reinald. „Hier leben zumeist Ackerbürger. Die reichen Krämer wohnen in der Altstadt. Doch kommt, am Ende dieser Straße beginnt der Markt.“
Wir folgten dem Mönch zu einer Kreuzung, wo sich die Straße ungewöhnlich verbreiterte. Ab hier herrschte reges Markttreiben. An vielen kleinen Ständen boten überwiegend Bauern und Handwerker ihre Ware feil. Händler sah ich nur wenige und war darüber enttäuscht. Als ich Reinald darauf ansprach, erwiderte er:
„Die Stände der großen Händler finden wir auf dem Markt der Altstadt. Habt noch ein wenig Geduld, wir sind gleich da.“
Ein paar Meter weiter hatte ein Pastetenbäcker seinen Stand aufgebaut, in dessen Nähe es verführerisch nach Essen und Gewürzen roch. Man mag mich für verfressen halten, aber ich bekam Hunger. Das Frühstück von Reinald hatte ich längst verdaut, und so viel gelaufen wie seit dem vergangenen Abend war ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Als ich näher an den Stand trat, vernahm ich Silvias warnende Stimme in meinem Kopf.
„Das würde ich dir nicht raten! Die Zunft der Pastetenbäcker ist nicht gerade berühmt für die Frische ihrer Produkte.“
Der ‚Stand‘ war eigentlich so etwas wie ein früher Imbisswagen. Nichts weiter als eine Art Schubkarre, auf der ein Ofen befestigt war.
Darin wurden die Pasteten frisch gebacken. Ein breites über die Holme gelegtes Brett aus rohem Holz diente dem Besitzer als Arbeits- und Verkaufstisch. Der Meister selbst war ein kleiner, schmuddeliger Typ, mit verfilzten langen Haaren und vor Schmutz starrenden Händen. Er trug eine Schürze, die man auch als seine Speisekarte hätte bezeichnen können. Problemlos konnte man an ihr ablesen, was er in den letzten vier Wochen verkauft hatte.
„Tretet näher, Junker! Feinste Pasteten biete ich Euch. Gefüllt mit Fleisch vom Schwein oder Rind. Auch habe ich welche mit Innereien oder Fisch. – Nur zehn Pfennige das Stück.“
Er lächelte mich auffordernd an, wobei er ein Gebiss entblößte, das aus nichts als schwarzen Zahnruinen bestand. Trotz meines Hungers schüttelte ich nachdrücklich den Kopf. Auch ohne Silvias fürsorgliche Warnung wäre es mir zu riskant erschienen, auf dieses Angebot einzugehen. Schnell folgte ich meinen Begleitern, die schon einige Schritte weitergegangen waren.
„Hast du‘s dir verkniffen?“ fragte Silvia lachend.
„Von Hygiene scheinen die in dieser Zeit nicht viel zu halten“, antwortete ich leise. „Wenn das Nahrungsangebot allgemein so ist wie bei dem Typ, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, man könnte uns auf den Scheiterhaufen stellen. Wir sterben lang vorher entweder an einer Lebensmittelvergiftung oder an Hunger.“
Wir waren nur wenige Meter weiter gegangen, als Reinald auf ein etwas zurück liegendes Gebäude zeigte.
„Dort sind das Rathaus der Neustadt und der Scharren. Ihr seht’s ja an den Fleischbänken.“
Stimmt, wir sahen es. Und damit nicht genug – wir rochen es auch. Unter den Arkaden des Rathauses standen die Bänke der Fleischerinnung. Alles das, was meine Sinne an diesem Ort wahrnahmen, veranlasste mich dazu, Silvia dankbar die Hand zu drücken, weil sie mich vor der Versuchung des Pastetenbäckers gewarnt hatte. So wie manche der Schlachter mit ihrer Ware umgingen, sprach doch einiges dafür, zum Vegetarier zu werden.
Die Straße war inzwischen wieder enger geworden. Erheblich enger sogar. Zu meiner nicht geringen Überraschung entdeckte ich eine Mauer, die sich mitten durch die Stadt zog und Alt- und Neustadt voneinander trennte. Am Fuße der Mauer floss ein etwa drei Meter
breiter Bach von Osten nach Westen quer durch die Stadt. Selbst ein Stadttor mit Zugbrücke gab es zwischen den beiden Stadtteilen, doch konnte man ungehindert von einem Teil in den anderen gelangen. Als ich mein Befremden darüber äußerte, erklärte uns Reinald, dass dies noch vor ein paar Jahren nicht der Fall gewesen sei. Damals seien die Menschen kontrolliert worden, hätten überdies Wegezoll zahlen müssen und nachts sei die Pforte sogar verschlossen worden. Er selbst habe das nicht mehr erlebt, aber so sei es ihm berichtet worden.
Wir ließen uns von der Menge weitertragen, bis wir am Rande eines großen Platzes standen.
„Dies ist der Markt der Altstadt. Hier findet ihr Waren aus aller Herren Länder. Die Kaufleute der Stadt sind nämlich alle Mitglieder der Hanse.“
Ich hatte den Eindruck, Reinald war richtig stolz, uns etwas bieten zu können.
Auf jeden Fall roch es hier wesentlich angenehmer als in der Neustadt. Die Luft war erfüllt vom Duft der verschiedensten Gewürze, durchzogen vom Geruch nach gebratenem Fleisch und offenem Holzfeuer.
Gleich zu Anfang des Marktes pries ein Tuchhändler seine Stoffe an. Er hatte sich eine Bahn über den Arm gelegt und hielt seiner potentiellen Kundschaft den Stoff zur Begutachtung entgegen.
„Seht her, edle Frau, Wolle aus England. Und hier auf dem Tisch - feinste Tuche aus Brabant und Florenz. Besseres findet Ihr auf dem ganzen Markte nicht“, sprach er eine Frau an. Der Kleidung nach eine Patrizierin, die mit ihrer Magd unterwegs war. Wie erfolgreich er mit seinem Angebot war, kann ich nicht sagen, denn als ich mich anschickte, stehen zu bleiben, wurde ich von meiner ‚Gemahlin‘ weitergezogen.
Zwei Soldaten der Stadtwache, die wohl die Aufgabe hatten, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, schlenderten gelassen durch das dichte Treiben, warfen uns, als sie unserer ansichtig wurden, misstrauische Blicke zu, zogen aber weiter ohne uns anzusprechen.
„Schau mal, da ist ein Silberschmied“, Silvia zupfte an meinem Ärmel. „Nur einmal angucken, ja?“
Sie schaute mich so filmreif bettelnd an, dass ich ein Unmensch hätte sein müssen, ihrem Wunsch nicht nachzugeben. Und außerdem –
warum waren wir schließlich hier? Folglich klopfte ich dem vor mir gehenden Reinald auf die Schulter.
„Mein Weib möchte sich den eitlen silbernen Zierrat ansehen“, erklärte ich ihm, als er sich fragend umsah.
„Wie es die Art der Weiber ist“, schmunzelte der Mönch. „Ich schlage vor, wir treffen uns an dem Stand dort vorn.“ Er wies mit der Hand in die Menge. „Ich muss bei dem Händler einige Kräuter und Gewürze für meine Medizin erwerben. – Doch achtet gut auf Eure Börse. Nicht dass zu befürchten wäre, es gebe mehr Diebe als sonst in der Stadt, aber die eigenen Weiber sollen manchmal die größten Beutelschneider sein - hab’ ich mir sagen lassen.“
Sprach‘s und verschwand lachend in der Menge. Ich folgte Silvia, die bereits bei dem Silberschmied stand und den letzten Satz des Mönches nicht gehört hatte.
„Schau mal, ist das nicht schön?“
Silvia hielt mir einen filigranen Anhänger entgegen.
„Mir ist nur nicht ganz klar, wie ich so etwas bezahlen soll“, knurrte ich halblaut durch die geschlossenen Zähne.
Ich fühlte mich ziemlich verunsichert. Vermutlich lag es daran, dass ich mir eingebildet hatte, ich würde meine Zeitreise wie ein Zuschauer im Kino erleben. Nun kam ich mir vor wie in einem Rollenspiel, in dem jeder seinen Text kannte, nur ich nicht. Nicht einmal die Spielregeln wusste ich und die einzige Mitspielerin, die mir hätte helfen können, brachte mich statt dessen in eine prekäre Situation.
„Ich darf mir also etwas aussuchen?“
Silvias Stimme war laut und begeistert, während ich gequält das Gesicht verzog.
„Verlass‘ dich darauf, dass ich vorgesorgt habe. Du hast genug Geld bei dir und ich tue nichts, was dich in Schwierigkeiten bringt. Vertrau‘ mir einfach.“
Ihre Stimme war hell und klar in meinem Kopf.
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