„Nimm es als Geschenk und genieße es, solange du möchtest“, hatte sie leichthin gesagt. „Wenn du meiner oder der Reise überdrüssig geworden bist, so sag es und ich werde dich umgehend zurückbringen.“
Ich dachte noch über diese Bemerkung nach, als Silvia plötzlich stehen blieb. Mit ausgestrecktem Arm deutete sie nach vorn und sagte:
„Jetzt gib gut Acht, mein Gemahl. Siehst du die Wälle und Hecken dort? Das ist die Landwehr von Lemgo.“
Im Zwielicht des grauenden Morgens konnte ich nicht viel mehr als einen dunklen Streifen erkennen, der vor uns die Heidefläche begrenzte. Es hätte ebensogut ein Waldrand sein können; doch wenn Silvia sagte, es sei die Landwehr, dann würde es wohl so sein.
„Und wie kommen wir dort weiter?“ wollte ich wissen. „Der Durchgang der Straße wird bestimmt bewacht.“
„Selbstverständlich! Doch du musst dir keine Gedanken machen. Die Wachen schlafen.“
„Woher willst du das wissen?“
„Hörst du mir eigentlich nicht richtig zu?“ kicherte sie. „Ich hab‘ dir doch gesagt, dass ich eine Zauberische bin.“
Ich gab es auf, irgend etwas von dem, was sie tat oder sagte, verstehen zu wollen. Es hatte ohnehin wenig Zweck und auf die eine oder andere Verrücktheit mehr oder weniger kam es nicht mehr an.
„Auch wenn die Männer schlafen, müssen wir dennoch leise sein, denn selbstverständlich können sie geweckt werden, wenn wir zuviel Lärm machen.“, flüsterte meine selbsternannte Gemahlin mir zu, kurz bevor wir den geschälten Fichtenstamm erreichten, der als Schranke diente.
Der Kuckuck mag wissen, wie sie es angestellt hatte, die Wache in Tiefschlaf zu versetzen, aber sie hatte es tatsächlich geschafft. Als wir über die Schranke stiegen, wurde unsere Turnübung vom beseligten Schnarchen zweier Männer begleitet, die schlafend neben dem Schlagbaum im Grase lagen. Uns bekümmerte das wenig. Ohne einen Blick an die Wachen zu verschwenden, schritt Silvia auf einen schmalen Waldweg zu, der von der Straße abzweigte. Durch dichtes Buschwerk ging es nun auf den Biesterberg. Wenigstens kannte ich ihn unter diesem Namen und wusste, dass er zu meiner Zeit lange als Truppenübungsplatz gedient hatte.
Der Morgen war gerade angebrochen, als wir aus dem Wald heraus auf eine weite Heidefläche traten, welche die Flanken des Berges bedeckte. Auf der Kuppe stand eine mächtige Linde. Silvia ging geradewegs auf den Baum zu und ließ sich in das weiche Gras fallen; welches den Stamm umgab. Ich tat es ihr nach.
Es war ein hübscher Ort zum Rasten. Da der nördliche Hang des Berges sanft abfiel und nur vereinzelt mit niedrigem Buschwerk bewachsen war, konnte man fast ungehindert den Blick schweifen lassen. Vor uns, im Tal der Bega, beleuchtete die aufgehende Sonne eine Stadt, bei der es sich nur um Lemgo handeln konnte. Die mir bekannten, charakteristischen Türme der Nikolaikirche gab es zwar noch nicht, wohl aber zeichneten sich die von St. Johann und St. Marien scharf gegen den blauen Himmel ab. Eine Stadtmauer – ich zählte sieben Tortürme – umgab den kleinen Ort. Auf den großen Straßen, die im Westen nach Herford und im Osten nach Hameln führten, glaubte ich Fuhrwerke erkennen zu können.
„Erkennst du die Stadt?“ fragte Silvia leise.
„Klar! Das ist Lemgo, aber es ist so unglaublich klein.“
„Klein!? – Zu dieser Zeit ist Lemgo eine der größeren und bedeutenderen Städte in weitem Umkreis. – Sieh mal dort.“ Sie zeigte auf ein von Katen umgebenes befestigtes Gehöft im Südosten der Stadt. „Das ist Brake. Das Renaissanceschloss, welches du kennst, gibt es noch nicht, aber als Burg wird das Anwesen schon bezeichnet. Es dient den Herren zur Lippe als Wohnsitz.“
Sie kicherte.
„Sie sind ganz schön gerissen, die Lemgoer Pfeffersäcke. Sie verstehen sich ausgezeichnet darauf, Bedingungen auszuhandeln, die
ihnen nützlich sind. In den Privilegien der Stadt, die sie den Edlen zur Lippe abgerungen haben, ist ausdrücklich festgehalten, dass die Lipper keine Burg innerhalb der Stadtmauern besitzen dürfen. Um dennoch eine gewisse Kontrolle zu haben, hat ihnen der Lipper Burg Brake direkt vor die Nase oder richtiger vor die Stadttore gesetzt.“
„Tja, so sind sie“, gähnte ich müde von der ungewohnten Nachtwanderung. Die wärmenden Strahlen der Sonne genießend lehnte ich mich an die raue Rinde des Baumes. Im Blätterdach über uns zwitscherten die Vögel, ansonsten war es still. Während der Nacht war mir das nicht aufgefallen, aber jetzt berührte es mich eigenartig. Träge ließ ich den Blick über die Heidefläche schweifen, deren Ränder von allerlei Buschwerk bewachsen waren. Dazwischen entdeckte ich ein paar halb zerfallene Gebäude.
„Sag mal, du kenntnisreiches Weib“, wandte ich mich an meine Begleiterin, „weißt du auch, um was es sich bei den Ruinen dort drüben handelt?“
„Reste eine ausgegangenen Hofes“, erwiderte sie ohne hinzuschauen. „Die Bewohner sind vermutlich in die Stadt gezogen. – Das hier ist übrigens ein Gerichtsplatz. Wir sitzen unter der
Feme-Linde.“
Neugierig schaute ich hinüber zu dem verlassenen Gehöft, als aus einer etwas besser erhaltenen Kate eine Gestalt mit Mönchskutte trat. Sie reckte sich im Morgenlicht, stutzte, als sie unser ansichtig wurde, und kam dann langsam herüber.
„Sind doch nicht alle fortgezogen. Zumindest einer ist noch da“, bemerkte ich halblaut, wobei ich mit dem Kopf auf die sich nähernde Gestalt wies.
Es war ein recht korpulenter Mönch, der in seiner braunen Kutte auf uns zu kam. Da von einem frommen Eremiten wohl kaum eine Gefahr ausgehen konnte, blieben wir ruhig sitzen und schauten dem Mann erwartungsvoll entgegen.
Der Mönch blieb einige Meter vor uns stehen, faltete die Hände vor seinem Bauch und sah eine Weile prüfend auf uns herab.
„Ihr seid nicht aus dieser Gegend“, konstatierte er. „Habt ihr den Weg verfehlt?“
Ohne auf Tonfall und Inhalt seiner Worte zu achten, stellte ich erleichtert fest, dass ich den Mann verstehen konnte.
„Gott zum Gruße, frommer Mann“, hörte ich Silvia erwidern.
„Höflichkeit scheint nicht eben Eure Stärke zu sein, da Ihr uns mit Fragen überfallt, statt uns zu begrüßen, wie es der Brauch ist. – Doch wenn wir auch Fremde in diesem Lande sind, so habt Ihr doch nichts von uns zu befürchten. Wir möchten nur ein wenig rasten und ziehen gleich weiter, um den Markt zu Lemgo aufzusuchen.“
Von der milden Schelte sichtlich getroffen, schaute der Mönch verlegen zu Boden.
„Vergebt mir meine Unhöflichkeit“, bat er. „Seit dieser Ort wüst fiel, kommen kaum noch Menschen her - und Fremde schon gar nicht. – Ich bin wohl zu viel allein und habe darob vergessen ... Erlaubt mir, euch zur Sühne eine kleine Vesper anzubieten. Bitte, sagt nicht nein.“
Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie es sich bei ‚Zauberischen‘ bezüglich der Nahrungsaufnahme verhielt, aber die Einladung rief mir in Erinnerung, dass ich schon seit etlichen Stunden nichts mehr zu mir genommen hatte. Allein bei der Erwähnung von etwas Essbarem meldete sich mein Magen mit einem erbärmlichen Knurren. Ich hätte nur zu gern gewusst, ob es richtig war, die Einladung anzunehmen oder ...
„Mit Freuden nehmen wir Euer Angebot an“, entgegnete ihm Silvia und enthob mich damit einer Entscheidung. „Aber mit Verlaub, Ihr seid auch nur ein armer Klausner. Wir wollen Euch nicht Eurer Vorräte berauben.“
„Keine Sorge! Einige Bauern sind recht freigiebig. Sie versorgen einen armen Eremiten aufs Beste. – Kommt, folgt mir zu meiner bescheidenen Herberge.“
Wir ergriffen unser Gepäck und schritten nebeneinander über die Heide zur Behausung des Mönches.
„Oh je, ich hab ja völlig vergessen, Euch zu sagen, wer wir sind“, bemerkte meine Begleiterin leicht zerknirscht, holte das Versäumte aber augenblicklich nach. „Mein Name ist Silvia und mein Gemahl wird Roger genannt.“
Читать дальше