Silvia sprang auf und begann übermütig um mich herum zu tanzen.
„Ah, Junker, findet Ihr langsam Gefallen an meinem Spiel? Vernehm‘ ich in Euren Worten überdies gar Sorge um mich? Oder ist es lediglich die Angst um Euer eigen Leben, die Euch bewegt? – Egal! Sorgt Euch nicht, mein Recke. Ihr wisst doch, dass ich eine Zauberische bin. Glaubt mir, wer immer uns ans Leben will, dem zeige ich die Krallen.“
Bei diesen Worten hob sie lachend die Hände, krümmte die Finger und hielt sie mir vors Gesicht.
Ich ergriff den Langbogen, hielt ihn mit gestrecktem Arm in die Höhe und sagte, bemüht, auf ihre Sprechweise einzugehen:
„Sollte nicht ein Mann in der Lage sein, sich und sein Weib zu schützen?“
„So ist’s recht, Junker. Nehmt Euer Schicksal in die Hand und beginnt die Rolle zu spielen, die es Euch zugedacht hat. Doch vergesst eines nicht ...“, sie kicherte verhalten, „... hinter jedem starken Mann steht eine starke Frau.“
„Eure seltsamen Ansichten über die Stellung des Weibes dürften derzeit noch unangebracht sein. Ihr mögt sie daher getrost ein paar Jahrhunderte für Euch behalten“, erwiderte ich würdevoll. „Aber mal
im Ernst, wie geht es nun weiter?“
„Heute ist in Lemgo ein großer Markt. Ich dachte, wir könnten uns den einmal anschauen. Was meinst du?“
„Eine gute Idee. – Und wie kommen wir nach Lemgo?“
„Zu Fuß, mein Gebieter“, lächelte sie mit den Augen klimpernd. „Da Ihr nur ein armer Söldner seid, der das bisschen Silber, welches er verdient, lieber in der Taverne durch den Schlund jagt, statt es seiner Gemahlin anzuvertrauen, besitzen wir leider keine teuren Rösser. Wir müssen uns auf Schusters Rappen durchs Leben quälen.“
„Schade eigentlich“, erwiderte ich, wobei ich mit Wehmut an meinen alten Landy dachte, der hier irgendwo neben mir stehen musste – nur eben ein paar Jahrhunderte später.
„Stell dich nicht an! So ein kleiner Spaziergang tut dir ganz gut, du wirst sehen.“
Leise seufzend ergab ich mich in mein Schicksal. Ich ergriff den Köcher mit den Pfeilen, Silvia ihre große Ledertasche, die neben ihr im Gras lag, dann schulterten wir unser Gepäck und verließen den Hof.
„Komm, hier geht’s lang.“
Silvia wies auf einen Feldweg, den ich aus späteren Zeiten als den Unteren Weg kannte. Mit der mir vertrauten asphaltierten Straße, auf der ich noch vor zwei Stunden gefahren war, hatte er allerdings nichts gemein. Es war lediglich ein übel ausgefahrener Feldweg, wie er schlimmer nicht hätte sein können. Zum Glück war er trocken.
Wir folgten dem Weg in Richtung Heiligenkirchen. Rechts von uns lagen Felder, die von der schwarzen Silhouette des Teutoburger Waldes begrenzt wurden. Auf der linken Seite, dort, wo die Berlebecke durch das Tal floss, lag das Gelände tiefer und schien sumpfig zu sein. Bodennebel, aus dem Weiden, Birken, Erlen und Büsche aufragten, bedeckte den ganzen Talgrund bis an den Fuß des Königsberges. Die milde Nachtluft roch nach Frühling, Erde und Landwirtschaft. Ich glaubte sogar den schwachen Duft von Schlüsselblumen zu schnuppern, doch das war bestimmt Einbildung.
Nach wenigen hundert Metern passierten wir ein Gehöft, das rechter Hand auf einem Hügel lag. Schwarz und scharf zeichnete es sich gegen den Nachthimmel ab.
„Schau mal, dort hinter dem Gehöft liegt der alte Thingplatz.“
Silvias Stimme war nur ein Flüstern.
„Dort hat vor rund sechshundert Jahren eine Schlacht zwischen Franken und Sachsen stattgefunden. Die Alten erzählen, in stillen Nächten könne man den Lärm der Schlacht und die Schreie der Verwundeten noch hören. Auch fänden die Toten hier keine Ruhe, sondern irrten über das Schlachtfeld.“
„Glaubst du etwa den Unfug? Jetzt sag mir nicht, du hast Angst.“
Ich war stehengeblieben und sah sie erstaunt an. Silvia zuckte jedoch lediglich mit den Schultern und zog mich weiter
Schweigend wanderten wir durch die Nacht, bis wir auf einen breiten Weg trafen. Ich vermutete eine Straße. Rechter Hand führte sie zu einem massigen Kirchturm, links verschwand sie in einem Gebüsch, hinter dem vermutlich die Berlebecke floss.
„Wir müssen uns links halten“, erklärte meine Begleiterin. „Dies ist die Straße, die von Paderborn über Detmold nach Lemgo und weiter nach Minden führt. Würden wir in die andere Richtung gehen, kämen wir unterhalb der Falkenburg vorbei, deren Ruinen du sicherlich kennst. Zu dieser Zeit ist sie aber noch eine völlig intakte Festung.“
Der Begriff Straße für diesen Feldweg der untersten Kategorie schien mir wenig angebracht, aber was half’s! Mir blieb nichts anderes übrig, als meiner Reiseführerin zu glauben.
Schon nach wenigen hundert Metern erreichten wir eine Furt.
„Jetzt gibt’s nasse Füße“, stellte ich fest, bückte mich und zog die flachen Lederschuhe aus. Zum Glück hatte Silvia mir eine Hose aus dem gleichen Material verpasst und nicht die zu dieser Zeit üblichen wollenen Beinlinge. Trockne Wolle kratzt schon unangenehm, aber nasse Wolle wäre so ziemlich das Letzte gewesen, das ich mir gewünscht hätte.
Silvia hatte mit amüsiertem Interesse zugesehen.
„Ihr schont wahrlich Euer Schuhwerk, Junker ... Sagt, wollt Ihr mich nicht hinübertragen?“
„So sich Euer Gewicht nicht gerade umgekehrt proportional zu Eurer Größe verhält, möchte ich den Versuch wohl wagen. Nur geb‘ ich zu bedenken, dass der Übergang schlammig und glitschig aussieht. Ihr geht mit Eurem Wunsch also ein recht hohes Risiko ein. So Euch das Schicksal übel gesonnen ist, holde Maid, liegen wir beide im Dreck.“
„Schon gut! Hast ja recht“, seufzte Silvia. „War ja nur ein Versuch.“
Sie nahm ihre Sandalen in die Hand, schürzte den Rock und watete ins Wasser. Ich folgte ihr vorsichtig.
Wie erwartet war der Boden glatt und rutschig. Und so, wie der Morast roch – nun, ich war froh, dass ich in der Dunkelheit nicht genau sehen konnte, woraus er bestand. Obwohl der Bach hier nicht sehr breit war, kostete es doch einige Mühe und Zeit, ans andere Ufer zu kommen, da keiner von uns den Wunsch verspürte, in dem Gewässer auch noch ein Bad zu nehmen.
Glücklich ans anderen Ufer gelangt, zogen wir unsere Schuhe wieder an, um dann dem breiten Weg zu folgen, der durch ein Waldstück steil auf den Königsberg führte. Oben wurde der Wald lichter und endete schließlich. Im hellen Mondlicht konnte ich sehen, wie sich unsere Straße durch kleine Felder schlängelte bis – etliche hundert Meter entfernt – zu einer Gabelung an einem riesigen Baum.
Silvia war stehengeblieben und schaute mich auffordernd an.
„Na, erkennst du die Gegend wieder? Weißt du, wo wir lang müssen?“
„Keine Ahnung, aber ich nehme an, dass der linke Weg nach Detmold führt und ich ihn als den Alten Postweg kenne. Zu dem rechten fällt mir nichts ein. Welchen von beiden wir nehmen müssen, kann ich dir nicht sagen. Das sieht alles so anders aus ...“
„Du warst gar nicht schlecht. Hier links geht es nach Detmelle – und das können wir getrost vergessen. Um diese späte Stunde wird man uns sowieso nicht in die Stadt lassen. Wir müssen den rechten Weg nehmen. Der führt uns am Johannettental vorbei, über den Apenberg nach Lemgo.“
Ich stützte mich auf den Langbogen, schaute die beiden Wege entlang, doch es gab nichts, an das ich mich hätte erinnern können.
„Und woher weißt du das so genau?“ fragte ich.
„Du hast dir eben eine exzellente Reiseführerin ausgesucht“, entgegnete sie lachend.
Während unserer nächtlichen Wanderung bemühte sich Silvia, mir einiges über die Zeit, in der wir uns befanden, zu erzählen. Sie erklärte mir die derzeitigen politischen Verhältnisse, versuchte mir so viel wie irgend möglich über Sitten und Gebräuche zu vermitteln und beantwortete eingehend meine Fragen. Denen, die ihre Person betrafen, wich sie allerdings beharrlich aus. Selbst meine Frage, warum gerade ich von ihr für diese Zeitreise ausgewählt worden war, blieb unbeantwortet.
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