„Das hast du vollkommen richtig erkannt.“
Einem derartigen Blödsinn war selbst im Traum nur mit Sarkasmus beizukommen.
„Dann gehe ich vermutlich nicht ganz fehl in der Annahme, dass ich jetzt Graf Roger der Viertelnachzehnte von Hiddesen bin und du der Gestiefelte Kater, dessen Stiefel gerade beim Schuster sind?“
„Ist es zuviel verlangt, wenn ich dich bitte zur Kenntnis zu nehmen, dass ich eine Katze bin? Im Übrigen habe ich mit dem Märchentyp der Gebrüder Grimm nicht das Geringste zu tun.“
Jetzt war ich sicher. Die Stimme klang pikiert!
„Ehrlich gesagt, hätte ich etwas mehr Begeisterung von dir erwartet. Wenn ich deine Gedanken vorhin richtig gelesen habe, hast du doch ein Faible für Geschichte. Insbesondere für das Mittelalter. Ich dachte, ich würde dir einen Gefallen damit tun, wenn ich dir die Möglichkeit biete, diese Zeit ‚live‘ zu erleben. Wenn ich mich geirrt habe, so entschuldige bitte. Solltest du den Wunsch verspüren, in deine Zeit zurückzukehren, so musst du lediglich in den Stall gehen und der Nebel wird dich in deine Zeit versetzen. Alles wird dann wieder sein wie vorher. Du wirst dich nicht einmal an diese Episode erinnern können. Solltest du jedoch den Mut aufbringen, dich auf
mich einzulassen, dann verspreche ich dir Abenteuer, die du immer gesucht hast, und Geschichte live. – Zurück in deine Zeit kannst du dann immer noch, darauf gebe ich dir mein Ehrenwort.“
Das, was ich in diesem Moment empfand, ist nur schwer in Worte zu kleiden. Ich glaube, am genauesten ist es damit beschrieben, dass ich schwankte zwischen dem Wunsch endlich aufzuwachen, und der Neugier, zu erfahren, was mir dieser eigenartige Traum sonst noch bieten würde. Ich war mir allerdings absolut nicht sicher, ob das, was ich eben erlebte, tatsächlich ein Traum war. Das Geschehen war zwar völlig surreal, aber dennoch auf eine beklemmende Weise real.
Langsam rutschte ich mit dem Rücken an der Stallwand herab, hockte mich ins Gras und murmelte:
„Seltsamer Traum. Aber was soll’s. Irgendwann wirst du schon wieder aufwachen.“
Die in meinem Schoß sitzende Katze schaute mich einen Moment lang an, hob dann beide Vorderpfoten und strich mir sanft über die Nasenflügel.
„Wenn die jetzt die Krallen ausfährt!“ schoss mir durch den Kopf.
Wieder hörte ich das Lachen in meinem Kopf.
„Keine Angst, ich habe nicht die Absicht, dich zu verstümmeln. Doch was meinst du, möchtest du probieren, mir auch weiterhin zu vertrauen?“
„Also doch wie beim gestiefelten Kater?“ dachte ich, noch ehe ich erkannte, dass meine Gedanken so frei nicht mehr waren.
„Wäre es für dich einfacher, wenn ich eine menschliche Gestalt hätte?“
„Ich glaube schon. Die Geschichte wäre dann immer noch verrückt genug, aber die Unterhaltung einfacher.“
Bei meiner gedachten Antwort schaute ich auf die Katze, die mich – wie mir schien – nachdenklich betrachtete.
„Vermutlich hast du Recht. – Komm, setz mich auf den Boden, schließe die Augen und stell dir vor, wie ich aussehen könnte, wenn ich ein menschliches Wesen wäre.“
Wunschgemäß tat ich, was sie von mir verlangte und hörte – hörte jetzt wirklich! – wenige Sekunden später Silvias Stimme.
„Du darfst jetzt die Augen öffnen.“
Einigermaßen gespannt darauf, was mich erwarten würde, schlug ich gehorsam die Augen auf. Die Katze war verschwunden. Statt ihrer
stand dort, wo ich sie abgesetzt hatte, eine Frau.
Das weibliche Wesen, bei dem es sich ja nur um Silvia handeln konnte, welche im hellen Licht eines vollen Mondes vor mir stand, war mittelgroß, hatte lange, dunkle Haare und war sehr zierlich. Sie trug ein schlichtes Kleid aus grobem, hellem Leinen, welches ihr bis zu den Füßen reichte. Um die Hüften hatte sie einen Gürtel geschlungen, an dem diverse Beutel befestigt waren. Ihre schmalen Schultern bedeckte ein wollenes Tuch, welches von einer silbernen Spange zusammengehalten wurde. In ihrem ebenmäßigen Gesicht fielen besonders die großen, dunklen Augen auf, die mich mit belustigtem Spott betrachteten.
Seien wir ehrlich, jeder Mensch, gleichgültig ob Frau oder Mann, hat hinsichtlich des äußeren Erscheinungsbildes seines Lebensgefährten gewisse Wunschvorstellungen. Solche Idealtypen werden dann gemeinhin als ‚Traumfrau‘ oder ‚Traummann‘ bezeichnet. (Das Beste an solchen Wesen dürfte vermutlich die Tatsache sein, dass sie zumeist ein Traum bleiben. Hat es doch den Vorteil, dass man nicht in die Verlegenheit kommt, irgendwelche Abstriche an diesen Halbgöttern vornehmen zu müssen.) Dies weibliche Wesen, welches so unvermutet vor mir aufgetaucht war, besaß – zumindest äußerlich – tatsächlich alle Attribute, die ich insgeheim mit einer Traumfrau verband. Wenn nun auch noch der Rest ...
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass meine Reaktion auf ihr Erscheinen ziemlich daneben geriet. Ich fürchte, ich habe sie mit offenem Mund und einem vermutlich reichlich dämlichen Gesichtsausdruck angestarrt. Die Frau nahm es zum Glück gelassen. Sie ließ mir Zeit, mich von meiner Überraschung zu erholen, verzog schließlich den hübschen Mund zu einem spöttischen Lächeln und bemerkte:
„Ich trage keine Schuld, wenn dir an meinem Äußeren etwas mißfallen sollte. Da ich deine Gedanken lesen konnte, habe ich mir alle erdenkliche Mühe gegeben, deinen Vorstellungen gerecht zu werden. – Allerdings ...“ sie schaute an sich herunter, „...bei der Körperlänge warst du ausgesprochen sparsam. Einsfünfundsechzig ist nicht eben viel. Aber du musstest mich ja deiner Länge anpassen. - Oder hätte ich sagen sollen: Unterordnen?“
„Nein, nein!“ beeilte ich mich mit rauer Stimme zu versichern.
Ich muss gestehen, dass ich mir reichlich belämmert vorkam. Das was ich hier erlebte, war alles ein bisschen viel für meine grauen Zellen. (In meiner Konfusion hatte ich nicht einmal die Anspielung auf meine Körpergröße registriert.) Aber eines stand fest: Mein Traum, wenn es überhaupt einer war, hatte nach seinem bedrückenden Anfang eine unbestreitbar äußerst attraktive Komponente erhalten.
Mit schwingendem Rock drehte sich Silvia um die eigene Achse.
„Also gefalle ich dir?“
„Doch, doch.“
„Lüg‘ mich lieber nicht an. Wenn mir danach ist, kann ich immer noch deine Gedanken lesen“, erwiderte sie lachend.
„Nein! Würde ich nicht tun.“
„Da bin ich aber beruhigt ...“
Die Ironie in ihrer Stimme war unüberhörbar.
„Darf ich mich zu dir setzen?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie sich neben mich in das weiche Gras und lehnte sich ebenfalls an die Stallwand. Erst jetzt fiel mir auf, dass sich auch das Wetter geändert hatte. Bei meiner Ankunft auf dem Hof hatte ein stürmisches, nass-kaltes Novemberwetter geherrscht. Jetzt hingegen war die Witterung frühlingshaft lau und trocken. Ich atmete tief durch und der Geruch nach frisch gepflügter Erde vermischt mit dem Rauch eines Holzfeuers stieg mir in die Nase. Während ich noch versuchte, diese neue Überraschung zu verarbeiten, fühlte ich Silvias Hand auf meiner Schulter. In diesem Moment wurde mir klar, dies konnte unmöglich ein Traum sein. Fühlen, riechen, mit allen Sinnen seine Umgebung wahrnehmen – dann träumt man doch nicht!
Verständnislos schüttelte ich den Kopf.
„Das gibt’s doch gar nicht. Versetzt in eine andere Zeit. Das ist doch unmöglich! – Unfug. Blödsinn. Quatsch.“
„Warum?“ hörte ich Silvias Stimme dicht an meinem Ohr und spürte sogar ihren warmen Atem. „Nur weil du es nicht verstehst, muss es unmöglich sein? Unmöglich ist eigentlich nur deine Engstirnigkeit. Auch wenn du es nicht gerne hören wirst, aber du benimmst dich ebenso borniert und überheblich, wie es alle Menschen zu allen Zeiten taten. Immer glaubten sie den Gipfel der Erkenntnis erreicht zu haben. Du lachst über jene, die annahmen, Blitz und Donner seien Götter. Du
Читать дальше