„Roger, was ist los mit dir?“
Hagen stand vor mir, hatte mich an den Schultern gepackt und sah mich mit großen Augen an.
„Ist dir nicht gut? Bist du krank? Du bist plötzlich stehen geblieben und wurdest weiß wie eine frisch gekalkte Wand. Dann hast eine Weile völlig abwesend vor dich hin gestarrt und plötzlich begonnen zu fluchen. – Bist du sicher, dass alles mit dir in Ordnung ist?“
In Ordnung? Nichts war in Ordnung!! Nur konnte ich ihm den Grund dafür natürlich nicht nennen, denn wie hätte ich ihm meine mentale Plauderei mit Silvia erklären sollen?
„Irgend etwas stimmt nicht! Silvia und Reinald droht Gefahr! Komm!“
Ich rannte los, ohne eigentlich zu wissen, was ich tun wollte. Silvia hatte etwas von einer Horde finsterer Gestalten gesagt. Eine Horde! – Wie viele waren das? Hatten wir zu zweit überhaupt eine Chance? Hinter mir hörte ich Hagen keuchen.
„Wie ... wie ... wie kommst darauf, dass den beiden Gefahr drohen
könnte? Hast du das zweite Gesicht?“
„Intuition.“ erwiderte ich knapp, weil mir keine vernünftige Antwort einfallen wollte und mir genügend andere Dinge durch den Kopf gingen. Was würde geschehen, wenn es mir nicht gelang, wieder in Silvias Nähe zu kommen? Ich sah mich schon ziemlich verlassen durch eine Zeit wandern, in die ich nicht gehörte, und das war eine Vorstellung, die mir nicht wirklich behagte.
„Intu ... was?“
„Vergiss es! Glaub mir einfach!“
So sehr wir uns auch beeilten, ganz so schnell, wie ich es mir gewünscht hätte, kamen wir leider nicht vorwärts. Dazu war das Unterholz zu dicht. Obwohl mir selbst heute noch jegliches Zeitgefühl für diesen Lauf fehlt, brauchten wir bestimmt mehr als fünf Minuten, bevor wir in die Nähe des Lagerplatzes kamen. Wir hatten noch nicht den Waldsaum erreicht, als wir Hufgetrappel und Stimmengewirr hörten. Sehr vorsichtig, jeden Busch als Deckung nutzend, schlichen wir uns durch den lichter werdenden Wald an die Wiese heran - und erblickten schließlich das Malheur, dass unsere Gefährten ereilt hatte. Sie befanden sich in der Gewalt von vier Berittenen und acht Soldaten zu Fuß. Das war sehr leicht zu erkennen, denn man hatte sich bereits auf dem Weg zu einem Zug formiert und stand kurz vor dem Aufbruch. Die Spitze bildeten zwei Reiter, von denen der eine, ein blonder Jüngling, in einem auffälligen Plattenharnisch steckte. Dahinter kamen Silvia und Reinald, dann folgten zwei weitere Reiter und den Schluss des Zuges bildeten die acht Soldaten, die auch den Handkarren zu ziehen hatten.
„Verdammt! Der Kerl in der Plattenrüstung, das ist der Sternberger“, zischte Hagen neben mir, wobei er auf den Blonden zeigte. „Die anderen auf den Gäulen kenn ich nicht, aber das Fußvolk gehört eindeutig zum Sternberg. Ich erkenn es an dem Wappen.“
„Sprachst du nicht davon, dass dies ein kaum benutzter Weg sei?“ wisperte ich ärgerlich.
„Ist es ja auch!“ zischte Hagen empört zurück. „Konnte ich ahnen, dass ausgerechnet heute der Sternberger diesen Weg nehmen würde?“
„Der Sternberger? Kennt du den Mann?“ wisperte ich.
„Kennen? Wie sollte ich einen Grafen kennen? Aber der Blonde in der Rüstung ist Alf, der jüngste Sohn des Grafen zu Sternberg“,
flüsterte Hagen. „Ich bin ihm im vergangenen Jahr auf einem Markt in Hameln begegnet.“
„Aber warum, zum Teufel, schleppen die ein Weib und einen harmlosen Mönch fort?“ fluchte ich. „Ist dieser Sternberger ein Raub-ritter, oder ist es hierzulande Sitte, Reisende zu verschleppen?“
„Was weiß denn ich! Vielleicht hat es sich bereits bis zum Sternberg herumgesprochen, dass Balduin den Mönch suchen lässt, und einer von denen hat ihn erkannt. Auf jeden Fall scheint man sie zur Burg zu bringen. Schau nur, sie ziehen los.“
„Verdammt, verdammt, verdammt!“ fluchte ich und mochte kaum glauben, was ich sah, aber es war tatsächlich so. Schon hatte sich die Kolonne in Marsch gesetzt. Einer nach dem andren verschwand hinter den Bäumen und zwei Minuten später war nicht einmal mehr der Hufschlag der Pferde zu hören.
Hagen schaute genau so verständnislos hinterdrein wie ich. Allerdings aus einem anderen Grund.
„Das versteh’ ich nicht“, murmelte er. „Ich hätte geschworen, dass sie den Wald nach uns absuchen oder zumindest auf uns warten, um auch uns mitzunehmen.“
„Wahrscheinlich wissen sie nichts von uns“, entgegnete ich. „Silvia wird es ihnen schwerlich mitgeteilt haben und Reinald scheint ihnen auch nichts gesagt zu haben.“
Wir liefen über die Wiese auf den Weg und schauten ziemlich dumm den Weg hinunter, den die Entführer unserer Gefährten eingeschlagen hatten. Tja, da stand ich mit meinem Talent, hatte Mittelalter ‚live‘ - und nicht die Spur einer Ahnung, was ich mit dieser Situation anfangen sollte. Wie hatte Silvia doch auf dem Toythof gesagt? – ‚Musst gut auf mich Acht geben.‘ – Und was tat ich? Ich ließ mir von einem dahergelaufenen blondgelockten Jüngling im Blechanzug die Frau klauen! Das ging nun wirklich zu weit. Ich merkte, dass ich langsam wütend wurde – und Wut kann manchmal auch hilfreich sein. Der Zorn auf den Blechbüchsenheini sowie die Sorge um Silvia verdrängten gänzlich meine Angst, im Mittelalter festzusitzen.
„Was nun?“ fragte Hagen. „Folgen wir ihnen?“
„Was sonst? Komm!“
Wir rannten den Weg hinunter, den die Ritter mit ihren Gefangenen
genommen hatten und wurden erst langsamer, als wir den Hufschlag ihrer Pferde hörten. Uns geflissentlich außer Sichtweite haltend, folgten wir ihnen eine gute Viertelstunde, als der Weg plötzlich abschüssig wurde, um nach einer scharfen Biegung auf eine kahle Hochfläche zu münden. Noch im Schutze des Waldes blieben wir stehen und mussten hilflos zusehen, wie die Ritter mit unseren Gefährten über das kleine Plateau zogen, an dessen Ende auf einem Bergsporn Burg Sternberg lag.
„Jetzt haben wir ein Problem“, stellte ich fest, als der Tross mit lautem Gepolter über die Zugbrücke in der Burg verschwunden war.
„Das magst du wohl sagen“, nickte Hagen.
In der vagen Hoffnung, ich könne eine Stelle entdecken, an welcher man des Nachts in die Burg eindringen konnte betrachtete ich das Gemäuer genauer, konnte aber – selbstverständlich! - keinen einzigen Schwachpunkt entdecken. Meine Idee war ja auch von vornherein völlig illusorisch, um nicht zu sagen: idiotisch gewesen. Burgen wurden schließlich nicht dafür gebaut, um ungebetenen Besuch zu erhalten, sondern sie sollten eben diesen verhindern. Und dazu schien dies Gemäuer in der Lage zu sein. Ich konnte zwar die strategische Bedeutung der Anlage nicht wirklich ermessen, aber eines wurde selbst mir klar - um einen kleinen Möchtegernstrategen wie mich v o r den Mauern zu halten, langte es allemal.
„Was nun? Hast du einen Vorschlag?“
Ich blickte Hagen hilflos an.
„Nein“, erwiderte der kopfschüttelnd. „Hier, direkt unter den Zinnen der Burg, ist aber nicht der rechte Ort für einen Kriegsrat. Ich denke, wir sollten uns ein Plätzchen suchen, wo wir uns in Ruhe unterhalten können. Außerdem habe ich Hunger. Mit ein wenig Glück läuft uns ja etwas über den Weg, das essbar erscheint. Gott sei Dank haben wir unsere Waffen noch. Stell dir vor, wir hätten sie vorhin im Lager gelassen!“
„Das du jetzt ans Essen denken kannst“, sagte ich kopfschüttelnd.
„Durch unser Fasten ist niemandem geholfen“, rechtfertigte er sich gelassen. „Du bist doch lange genug Soldat, um zu wissen, dass in solchen Fällen nur Geduld weiterhilft.“
„Da hast du allerdings recht.“
Der zarte Hinweis auf meine langjährige Söldnerkarriere beschämte
mich, half mir aber, mich zusammenzureißen. Dank Silvias Erzählungen musste ich als altgedienter Kämpe logischerweise über die nötige Erfahrung verfügen. Hagens Bemerkung war durchaus angebracht gewesen. Er durfte mit Fug und Recht von mir erwarten, dass ich ihm sagte, was in diesem Fall zu tun war, und nicht etwa umgekehrt.
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