„Meint Ihr wirklich? Das ist alles, was ich besitze.“
Silvia hatte die Deichsel des Handwagens losgelassen und war ein paar Schritte in den Sumpf gegangen.
„Komm, Roger, lass uns schauen, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, auf die andere Seite zu gelangen!“ rief sie mir zu.
Gemeinsam erkundeten wir das Gelände. Einige halbwegs feste, mit Schlüsselblumen bewachsene Inseln im Sumpf ausnutzend, standen wir bereits nach etwa hundert Metern vor dem hier zwar recht breiten, aber nur knöcheltiefen Bach. Am gegenüberliegenden Ufer stieg das Gelände wieder an und war fest und trocken.
„Siehste! Hier kommen wir `rüber.“ Silvia grinste mich an. „Wusste ich doch!“
„Jo“, brummte ich, „und Reinald kann seinen Klüngel behalten.“
Wir gingen zurück zu dem Mönch, der uns voller Erwartung entgegen sah.
„Habt ihr einen Weg gefunden?“
Ich nickte.
„Silvia hat.“
Mit vereinten Kräften zogen wir den Handwagen durch den Sumpf. Obwohl es nicht sonderlich weit bis zum Bach war, brauchten wir eine ganze Weile, bis wir dort ankamen. Die schmalen Räder des Karrens versanken immer wieder tief im Morast und mehrfach drohte das Gefährt umzukippen. Hinzu kam der dichte Bewuchs mit Stangenholz, das sich als äußerst hinderlich erwies und uns zu manchem Umweg zwang. Nur mit einiger Mühe erreichten wir unbeschadet die Furt, deren Überqueren dann nur ein Kinderspiel war.
Auf der anderen Seite angekommen, zogen wir weiter nach Süden, immer dem Bachlauf folgend, bis nach einer halben Stunde Reinald plötzlich stehen blieb.
„Wir dürften jetzt bald auf den Weg von Detmold nach Barntrup stoßen. Es ist dann nicht mehr weit bis Huxoll. Vorher aber sollten wir eine Rast machen.“
„Ein wahrhaft guter Einfall.“ Silvia ließ sich auf ein dickes Moospolster fallen. „Ich dachte schon, keiner von Euch würde auf diese Idee kommen.“
Reinald zog einen Leinenbeutel aus seinem Karren und verteilte daraus Brot und Käse. Mit einem Krug holte ich Wasser aus dem Bach
und fertig war unser Picknick.
„Wir sollten unser karges Mahl mit einer frisch gegrillten Forelle aufbessern“, schlug ich an einem Stück Käse kauend vor. „Im Bach habe ich welche gesehen.“
„Gegrillte Forellen? In diesem Bach??“
Silvia schaute mich mit weit aufgerissenen Augen ungläubig an. Reinald verschluckte sich vor Lachen beinahe an seinem Käse.
„Das Land, wo Milch und Honig fließen - davon las ich in der Bibel. Von einem Land aber, in dessen Bächen gebratene Forellen schwimmen, habe ich noch nie gehört.“ bemerkte er glucksend.
Ich sah meine höchst amüsierten Gefährten mit gespieltem Zorn an.
„Gesindel.“ knurrte ich, streckte mich im weichen Gras aus und schloss die Augen. „Weckt mich, wenn es weitergeht.“
Mich wohlig räkelnd, lauschte ich noch ein Weilchen ihrer halblauten Unterhaltung, war aber bald darauf eingeschlafen.
*
Ich erwachte, weil meine Nase juckte. Träge in die Sonne blinzelnd erkannte ich Silvia, die neben mir kniete und mit einem Grashalm meine Nase kitzelte.
„Schändliches Weib“, murrte ich nicht sonderlich überzeugend. „Was ist das für eine Art, den Mann aus seinem wohlverdienten Schlummer zu reißen?“
„Notwehr.“ flüsterte Silvia mit verzweifelter Miene. „Ich sitze hier zwischen zwei fürchterlich schnarchenden Mannsbildern und langweile mich.“
„Dann schlaf doch auch“, empfahl ich ihr, müde die Augen wieder schließend.
„Würde ich ja gern. – Geht aber nicht, denn – ich sitze hier zwischen zwei fürchterlich... .“
Ich öffnete die Lider einen Spalt breit.
„Ist ja gut. Ich habe verstanden.“ unterbrach ich sie ausgiebig gähnend. „Nur solltest du dann auch Reinald wecken.“
Silvia schüttelte energisch den Kopf, was ihre dunkle Mähne in wellenförmige Bewegung versetzte. Dann legte sie sich neben mich
ins Gras.
„Ich denke, es ist besser, ihn schlafen zu lassen“, sagte sie leise. „Er hat mir vorhin erzählt, dass er fast die ganze Nacht im Gebet verbracht hat. Der arme Kerl muss todmüde sein.“
„Ja, dann... dann wirst du wohl oder übel seine Sägerei noch eine Weile ertragen müssen“, erwiderte ich ebenso leise. „Hast du übrigens eine Idee, wie es weitergeht? Ich meine, Hagen aufzusuchen ist ja gut und schön, aber lange bleiben können wir dort nicht. Wenn wir Reinald in Sicherheit bringen wollen, müssen wir uns schon etwas mehr einfallen lassen.“
Auf die Unterarme gestützt, mit einem Grashalm spielend, blickte sie nachdenklich vor sich hin, schob die Unterlippe vor und meinte nach einem Moment des Nachdenkens:
„Es wäre angebracht, wenn er möglichst weit aus dieser Gegend verschwände. – Du, wir könnten ihn doch in die Provence bringen. Ja, das wär‘s! Dort hat es ihm gut gefallen, dort sucht ihn niemand und wir hätten eine herrliche Reise vor uns. – Komm, sag schon ja.“
Silvia sah mich strahlend an, sichtlich begeistert von ihrer Idee.
„Mal eben in die Provence.“ Ich tippte mir vielsagend an die Stirn. „Menschenskind, das sind über tausend Kilometer. Wenn ich bedenke, wie lange wir allein für die paar Meter heute gebraucht haben. - Wann gedenkst du dort anzukommen?“
„Ich dachte nur ... .“
Mit einem misstönenden Rasseln erstarb das Schnarchen des Mönches so abrupt, dass wir besorgt zu ihm hinüber blickten. Reinald richtete sich mühsam auf, rieb sich die Augen und sah uns schlaftrunken an.
„Ich bin ein wenig eingenickt“, stellte er fest.
„Was nicht zu überhören war“, amüsierte sich Silvia. „Doch tröstet Euch, Ihr habt auch nicht schlimmer gesägt als Roger.“
„Nachdem wir nun alle wieder munter sind, kann es ja weiter gehen. Wir haben genug Zeit vertrödelt.“ Ich stand auf und streckte die Glieder.
„Da mögt Ihr wohl recht haben“, stimmte mir der Mönch zu. Es klang wie ein Seufzer. Er erhob sich, wischte Laub und Gras von seiner Kutte und war reisefertig. Bevor wir loszogen, ging ich noch einmal zum Bach, um mir eine Handvoll Wasser ins Gesicht zu werfen, dann wanderten wir unter Reinalds Führung weiter.
Nach einer knappen Viertelstunde standen wir auf einer Straße, von der Reinald behauptete, dass es der Weg von Detmold nach Barntrup sei. Sie führte mit leichter Steigung gen Osten. Auf der Kuppe des Hügels angekommen, ging sie dann ziemlich eben weiter, bis wir an einen Weg kamen, der zu zwei Höfen führte, die links von uns in einer Senke lagen.
„Das müssen die Höfe sein“, meinte Reinald. „Welcher der beiden aber der zu Huxoll ist...“
Wir schritten die Straße hinunter, die verlassen im Schein der Nachmittagssonne vor uns lag. Bei dem ersten Hof trafen wir einen Knecht, den wir nach dem Wohnsitz des Bogenbauers fragten. Der Mann wies auf einen einzelnen, in der Nähe des Meierhofes stehenden Kotten, in dem Hagen wohnen sollte.
Als wir uns dem Haus näherten, erkannte ich schon von weitem Hagen, der vor seinem Haus saß und an irgendetwas herumwerkte. Als er unserer ansichtig wurde, legte er seine Arbeit zur Seite, stutzte und kam uns entgegen.
„Seid gegrüßt.“ empfing er uns. „Dass wir uns so schnell wiedersehen würden, hätte ich nicht erwartet. Dazu noch mit großem Gepäck“, bemerkte er mit einem nachdenklichen Blick auf den Karren des Mönches.
Dankbar, endlich am Ziel zu sein, folgten wir ihm zu seiner Kate, einem sehr einfachen, mit Stroh gedeckten Fachwerkbau. Der kleine Hof vor dem Haus, eigentlich nicht mehr als eine große Terrasse, wurde auf zwei Seiten von Fliederbüschen geschützt. Gen Süden hatte man freien Blick in die Senke und zum Hügel, auf dem der Blomberger Weg verlief. Unter dem Flieder lagen Rutenbündel, die, wie ich annahm, zur Herstellung von Pfeilen gedacht waren.
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