»Glaubst du, dass er eine andere Frau kennengelernt hatte?«
»Nein, auf keinen Fall. Das wäre mir ganz sicher aufgefallen. Es schien tatsächlich die Arbeit gewesen zu sein, die ihn besonders in Anspruch genommen hatte.« Sie trank von ihrem Kaffee.
»War er möglicherweise unter Druck geraten, weil er Fehler in der Bank gemacht hatte?«
»Ich glaube, dafür hatte er ein zu dickes Fell. Außerdem hatte er die Fehler nicht allein gemacht. Das ganze Management der Bank war ja dafür verantwortlich, wenngleich er in seiner Position sicherlich seinen Teil dazu beigetragen hatte.«
»Vielleicht hatte er fahrlässig das Geld seiner Kunden riskiert und einer davon hatte es ihm besonders übelgenommen?« Nicole schaute ihn ungläubig an.
»Die Kunden, die er hatte, konnten doch den Hals nicht voll genug bekommen und wussten genau, welches Risiko sie eingingen. Außerdem hatte es gerade die reichen Kunden gar nicht so hart getroffen, wie immer behauptet wird. Einige hatten hinterher sogar noch mehr auf dem Konto. Thomas hatte mir gegenüber einmal eine Andeutung dieser Art gemacht, obwohl er gerade in den letzten beiden Jahren fast gar nicht mehr über diese Dinge mit mir gesprochen hat.«
»Stimmt es, was Favalli sagt, dass du bei einer Scheidung möglicherweise leer ausgegangen wärst?«
»Damit habe ich mich nicht näher beschäftigt. Ich wollte einen Schlussstrich ziehen, weil ich so nicht länger leben konnte. Er hat sich auch nicht lange dagegen gewehrt und war schließlich mit der Scheidung einverstanden.«
»Aber irgendwie musst du dir doch Gedanken über deine Zukunft nach der Scheidung gemacht haben?« Nicole sah zur Seite und versuchte einen Blick auf die züngelnden Flammen im Kamin zu werfen, doch sie konnte nicht viel davon sehen. Es standen zu viele Tische und Stühle im Weg. Das Thema war ihr unangenehm.
»Gut, ich bin davon ausgegangen, dass Thomas noch für meinen Unterhalt aufkommt, bis ich auf eigenen Füßen stehen würde.« Sie machte eine Gedankenpause und trank wieder von ihrem Kaffee. Dann sagte sie:
»Ich hatte auch gehofft, dass er mir das Ferienhaus in Gerra überlässt. Nicht damit ich es zu Geld machen kann, nein ich konnte mir gut vorstellen, dort zu leben.«
»Und hattet ihr schon darüber gesprochen, du und dein Mann?«
»Doch, wir hatten darüber gesprochen und er hatte mir versichert alles fair abzuwickeln, obwohl wir...« Nicole zögerte und griff wieder nach ihrer Tasse. Während sie trank, blickte sie Marco über den Tassenrand an.
»Obwohl ihr was?« Nicole setzte die Tasse ab.
»Gütertrennung vereinbart hatten.«
»Gab es dafür einen bestimmten Grund?«
»Ich war sehr verliebt in unserer Anfangszeit und er auch. Sein Vater hatte ihm dazu geraten und mir war es damals egal.«
»Warum gerade sein Vater?«
»Ach, was weiß ich.« Sie überlegte und machte dabei eine trotzige Miene. »Ich glaube ein Freund seines Vaters wurde von seiner Frau nach der Scheidung finanziell ruiniert. Er war wohl schon vor der Hochzeit vermögend und sie hatte keinen einzigen Rappen.«
Bessell wusste nicht, was er davon halten sollte. Auf jeden Fall hatte Favalli recht und Nicole Hengartner profitierte von dem Tod ihres Mannes. Die vereinbarte Gütertrennung konnte ihr jetzt vollkommen gleichgültig sein, es sei denn ....
»Und da gab es wirklich keine andere Frau im Leben deines Mannes?«
»Nein, das hätte ich gemerkt, und als ich ihm meinen Entschluss mitgeteilt habe, mich unbedingt von ihm trennen zu wollen, hätte er mir doch davon erzählt.«
»Aber warum war er mit der Scheidung so schnell einverstanden?«
»Weil auch er gemerkt hat, dass wir keine richtige Ehe mehr geführt haben.«
»Über welches Vermögen reden wir überhaupt? Favalli sprach von einer stattlichen Summe, die dein Mann auf der hohen Kante hätte.«
»Du wirst lachen, aber ich habe mich für diese Dinge nicht interessiert. Er war schließlich der Banker. Ich wusste nur, dass er gut verdiente und gelegentlich anständige Gratifikationen kassierte. Mir war auch klar, dass unser Haus in Zürich und natürlich das hier im Tessin nicht gerade billig gewesen sein konnten. Hin und wieder bekam ich mit, wie er nach gewinnbringenden Anlageformen Ausschau hielt und sie wohl auch fand. Manchmal wirkte er deswegen angespannt und nervös, aber schließlich war er der Fachmann und ich habe mir darüber keine weiteren Gedanken gemacht.«
»Das bringt uns alles nicht recht weiter«, sagte Bessell und trank den Rest aus seiner Kaffeetasse.
»Darum bin ich ja so beunruhigt.«
»Gibt es ein Testament?«
»Keine Ahnung. Um das in Erfahrung bringen zu können, muss ich zurück nach Zürich. Ich weiß sowieso nicht, wie das jetzt alles weiter geht.«
»Erst muss wohl die Leiche deines Mannes freigegeben werden. Dann wird ein offizieller Totenschein ausgestellt. Mit dem hast du dann die Möglichkeit, die Bankkonten einzusehen, glaube ich zumindest. War dein Mann bei einem bestimmten Notar oder Rechtsanwalt?«
»Ja, wir haben einen Rechtsanwalt.«
»Hat er sich die Steuererklärung machen lassen?«
»Ja, selbstverständlich.«
»Leben die Eltern von deinem Mann noch?«
»Seine Mutter schon, sein Vater ist vor einigen Jahren gestorben.«
»Weiß seine Mutter bereits davon?«
»Ich denke ja, ich hatte Thomas Bruder angerufen. Er lebt in der Nähe von Schaffhausen, wo seine Muter wohnt. Er wollte hinfahren und es ihr schonend beibringen.«
»Wie war dein Verhältnis zu seinen Eltern?«
»Eher reserviert, ich glaube sie hatten sich eine andere Schwiegertochter für ihren Thomas gewünscht. Thomas war ihr jüngster Sohn.«
»Hatte er noch weitere Geschwister?«
»Nein, nur seinen Bruder Andreas. Er ist drei Jahre älter.«
»Wie verstehst du dich mit ihm?«
»Sehr schlecht. Er mochte mich von Anfang an nicht und hat es mich gelegentlich auch spüren lassen.«
»Und wie hat Thomas sich mit seinem Bruder verstanden?«
»Gut, würde ich sagen. Sie haben sich zwar nur selten gesehen, aber häufig miteinander telefoniert.«
»Hört sich alles ganz normal an. Hatte dein Mann Hobbys, denen er nachgegangen ist?«
»Außer Segeln, war da eigentlich nichts. Das heißt, gelegentlich ist er zu den Heimspielen von Grasshopper Zürich gegangen.«
»Allein?«
»Nein, mit einem Arbeitskollegen. Manchmal hat er auch einen Freund von uns mitgenommen. Er wohnt mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Baden.«
»War er Mitglied in einem Segelverein?«
»Nein, aber hin und wieder haben wir uns ein Segelboot geliehen und sind am Wochenende auf dem Zürichsee gesegelt.«
»Verstehst du auch etwas vom Segeln?«
»Nur sehr wenig. Ich war der Fockaffe.« Sie mussten beide lachen. Bessell wusste, der Fockaffe bekam Anweisungen vom Steuermann, dem Großschoter und war dazu da, Vorsegel und Spinnaker zu setzen, zu bergen und zu bedienen. Der Fockaffe auf einem Segelboot wird häufiger nass und ist viel beschäftigt. Für einen kurzen Moment stellte Bessell sich vor, wie Nicole vorne am Bug hockte, das flatternde Vorsegel vor dem Gesicht und auf neue Befehle von ihrem Mann wartete, der stolz an der Ruderpinne unter dem Großschot saß.
»Manchmal hatte ich den Eindruck, er wäre lieber allein gesegelt, als mit mir zusammen.«
Bessell spielte mit der leeren Kaffeetasse, bis sie ihm schließlich aus der Hand glitt und über den Rand der Untertasse auf die Tischdecke kullerte. Er fing sie wieder ein und stellte sie zurück.
»Wenn ich das alles so höre, dann kann ich mir nicht recht vorstellen, wer deinem Mann etwas Böses gewollt haben könnte. Natürlich kann man nicht ausschließen, dass er sich einen seiner Bankkunden zum Feind gemacht hat, aber ob dieser ihn deshalb gleich umbringt ...? Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.« Bessell schwieg einen Moment, weil er über etwas nachzudenken schien. Nicole sah ihn erwartungsvoll an.
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