»Finden Sie nicht auch, dass es albern ist, wenn wir uns die ganze Zeit mit Sie anreden? Ich heiße Nicole.« Sie nahm ihr Glas zur Hand, hielt es hoch und wartete mit einem Lächeln darauf, dass Bessell mit ihr anstieß.
»Einverstanden, ich heiße Marco.«
»Marco mit c geschrieben?«
»Ja, bei einer italienischen Mutter gab es darüber keine Diskussion.« Bessell musste ganz unverhofft lachen und Nicole Hengartner sah ihn fragend an.
»Ich habe noch einen zweiten Vornamen und mit dem spricht meine Mutter mich auch heute noch an.«
»Und der wäre?«
»Mein zweiter Vorname ist Andrea, ach was rede ich, es ist eigentlich mein Erster, so steht es zumindest auf meiner Geburtsurkunde und in meinen Ausweisen.«
»Ja, ich verstehe.«
»Als ich geboren wurde, da war Andrea in Deutschland ein sehr beliebter und weitverbreiteter Mädchenname. Meine Mutter konnte es gar nicht begreifen und wollte mich trotzdem unbedingt Andrea nennen. Doch mein Vater war etwas vorausschauender und schlug gleich als zweiten Vornamen Marco vor. Ich bin davon überzeugt, dass die deutschen Behörden den Vornamen Andrea allein nicht akzeptiert hätten. Als ich in die Schule kam, war ich froh darüber und habe mich natürlich von allen Mitschülern nur Marco nennen lassen.«
Nicole nippte an ihrem Weinglas und sah Marco dabei an. Das Essen wurde gebracht. Diesmal kam wieder die Kellnerin, die Nicole so herzlich begrüßt hatte.
»Vorsicht«, sagte sie auf Deutsch, »die Lasagne ist noch ganz heiß.« Sie stellte die Teller auf den Tisch.
»Meine Kollegin bringt sofort den Salat. Möchten Sie noch etwas Brot dazu?« Nicole und Marco nickten.
»Sehr gern.«
Der Salat wurde gebracht und gleich darauf ein Körbchen mit geschnittenem Weißbrot.
»Buon appetito.«
»Grazie«, antworteten sie im Duett. Die Lasagne war tatsächlich noch sehr heiß und Nicole pustete mit geschürzten Lippen, während Marco den Salat probierte.
»Ich glaube mit der Lasagne müssen wir noch einen Augenblick warten, sie ist noch viel zu heiß. Erzähl mir noch etwas von deinem Leben als Schriftsteller.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen und ich weiß noch nicht einmal, ob es am Ende mit der Schriftstellerei klappt. Woher weißt du eigentlich davon?«
»Ich kenne deine Vermieterin.«
»Ach ja. Übrigens ist sie eine sehr gute Freundin meiner Mutter, sonst könnte ich mir die Wohnung hier nicht leisten.«
»Woran schreibst du gerade?«
»Darüber möchte ich noch nicht sprechen. Ich will nur soviel verraten, dass es ein Roman wird und auch etwas mit dem Lago Maggiore zu tun hat.«
Bessell wunderte sich über die Fragen. Er hatte eigentlich gehofft, mehr über Nicole Hengartner zu erfahren und jetzt fragte sie ihn aus. Was war sie bloß für eine Frau. Vielleicht hatte Sie ihren Mann tatsächlich auf dem Gewissen.
»Aber einen Roman hast du schon veröffentlicht?«
»Ja, aber er hat sich nicht gut verkauft.«
»Wie bist du überhaupt zur Schriftstellerei gekommen?«
Bessell erzählte ihr mit wenigen Worten, dass er Lehrer werden wollte, dann Germanistik studiert hatte und am Ende doch nichts von beidem zum Abschluss gebracht hatte. Dann die Arbeit im Zeitschriftenverlag, auf Empfehlung seiner erfolgreichen Frau. Die albernen Artikel über Architektur, Designermöbel und Luxusuhren und schließlich die Entscheidung, alles hinter sich zu lassen und als freier Schriftsteller zu arbeiten.
»Und was macht deine Frau beruflich?«
»Sie ist Journalistin und viel auf Reisen.« Bessell probierte die Lasagne. Sie schmeckte ihm.
»Ach, ich glaube, dass deine Frau Journalistin ist, hattest du mir schon an dem Abend in San Nazzaro erzählt. Es ist schon ein seltsamer Zufall, dass wir beide gescheiterte Ehen hinter uns haben.« Sie wirkte auf einmal sehr nachdenklich, spießte ebenfalls ein Stück Lasagne auf die Gabel und schob es sich vorsichtig in den Mund. Die Lasagne war nicht mehr so heiß wie zu Beginn.
»Nicole, wir müssen noch über dich und deinen Mann sprechen. Ich glaube Favalli hat es auf uns beide abgesehen. Er verdächtigt uns.«
Sie wurde blass, sah Bessell kurz in die Augen und dann wieder auf ihren Teller. Mit der Gabel stocherte sie in ihrer Lasagne herum. Dann legte sie das Besteck an den Tellerrand und lehnte sich zurück.
»Du hast recht, das müssen wir.«
Bessell überlegte, sah noch einmal hinaus in die schon fortgeschrittene Dämmerung. Der See war kaum noch zu erkennen und aus der ockergelben Felsenmadonna war ein graues Gebäude mit Türmchen geworden. In den Fensterscheiben spiegelte sich bereits zart das Innere des Restaurants, allen voran Bessell, zurückgelehnt in seinem Stuhl und Nicole, die etwas in sich zusammengesunken darauf wartete, von ihm befragt zu werden.
»Wie du schon richtig erkannt hast«, fing Bessell an, »hat der Zufall es alles andere als gut mit mir gemeint.« murmelte er kopfschüttelnd und ließ ein leises spöttisches Lachen folgen.
»Eigentlich bin ich hier ins Tessin gekommen, um in der Beschaulichkeit dieser Landschaft konzentriert an meinem Roman zu arbeiten. Jetzt im Winter war ich davon überzeugt, dass es gelingen könnte. Und dann gerate ich mitten in solch eine Sache hinein.«
»Das tut mir schrecklich leid für dich«, sagte Nicole und legte ihre Hand auf seine. Bessell empfand die Berührung als sehr angenehm, dennoch zog er seine Hand nach einem kurzen Augenblick zurück und trank von seinem Glas. Nachdem er das Glas zurückgestellt hatte, legte er seine Hand nicht wieder auf den Tisch.
»Favalli und Caroni haben sich bereits eine Meinung über mich gebildet, die unumstößlich zu sein scheint und offenbar durch Gerüchte genährt wird.« Bessell klang sehr ärgerlich.
»Irgendwer im Ort hat ihnen erzählt, dass ich mit dir gut befreundet bin. Doch wenn man genau hinhört, dann meinten sie mit befreundet, dass wir etwas miteinander haben.«
Nicole lachte kurz und spitz auf, verdrehte die Augen und griff nach ihrem Weinglas.
»Die spinnen doch«, sagte sie und kippte den letzten Rest aus dem Glas hinunter.
»Das mag sein, aber die meinen es ganz ernst. Favalli hat mir heute Morgen ziemlich unverblümt zu verstehen gegeben, dass er mich verdächtigt, deinen Mann umgebracht zu haben.«
Bessell hatte etwas lauter gesprochen und sah hinüber zum Tresen. Sie waren noch immer die einzigen Gäste im Lokal. Die junge Bedienung polierte wieder die Gläser, die Ältere war nirgendwo zu sehen.
»Dieser Vollidiot«, warf Nicole scharf dazwischen.
»Er sprach übrigens davon, dass du bei der Scheidung ziemlich leer ausgegangen wärst, weil ihr keine Kinder habt und dein Mann das Geld verdient hat.«
Nicole sah empört zur Seite und biss sich auf die Unterlippe. Bessell wartete darauf, dass sie sich verteidigte. Doch es kam nichts. Schließlich ergriff er wieder das Wort.
»Und da ich als mittelloser Schriftsteller und dein vermeintlicher Geliebter ebenfalls vom Tod deines Mannes profitieren würde, verdächtigen sie mich eben. So einfach ist das.«
Nicole schüttelte den Kopf.
»Das ist alles so krank. Diesem Favalli habe ich gleich angemerkt, dass er mich nicht mag und ganz offenbar Vorurteile gegen mich hat. So in der Art, verwöhnte Frau, die selbst nichts zustande gebracht hat und sich von ihrem Mann aushalten lässt.« Sie sah sehr zornig aus, während sie es sagte.
Bessell wartete ab, ob sie noch etwas hinzufügen wollte, doch sie beugte sich nach vorn, nahm die Glaskaraffe und schenkte sich den letzten Rest Wein ein.
»Übrigens«, sagte Bessell, »was die ganze Sache nicht leichter macht, Favalli hat mir heute Morgen ebenfalls mitgeteilt, dass ein Raubmord definitiv ausscheidet. Dein Mann soll Bargeld und Kreditkarten bei sich gehabt haben und nichts von dem wurde angerührt.«
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