»Es tut mir leid, dass die Polizei Sie immer wieder behelligt, nur weil Sie unser Nachbar sind. Dieser Favalli ist aber auch ein unangenehmer Typ.«
»Das braucht Ihnen nicht leidzutun. Der Zufall hat es so gewollt und gegen den kann sich niemand zur Wehr setzen.« Bessell sagte es ganz ruhig und es klang beinahe so, als würde es ihn gar nicht belasten, was aber nicht stimmte. Frau Hengartner ging nicht weiter darauf ein. Schweigend fuhren sie durch die letzten Seedörfer auf der Nordostseite des Lago Maggiore. Dann verschwand die Enge des Gambarogno mit den steil zum See herabfallenden Berghängen des Monte Tamaro, den mühselig in den Hang gebauten Villen und den oft Schulter an Schulter stehenden alten Häusern an der Uferstraße. Vor ihnen lag die Magadinoebene. Bessell fuhr in einen Kreisel, nahm die Ausfahrt Richtung Locarno und beschleunigte den Mercedes wieder zügig bis auf achtzig Kilometer pro Stunde. Er wollte nicht angeben, aber er war es nicht gewohnt, ein Auto mit einem so kraftvollen Motor zu fahren. Sie überquerten den Fluss Ticino. Zu beiden Seiten erstreckten sich Wiesen und Äcker bis zu den Berghängen und hinauf nach Bellinzona. Frau Hengartner drehte sich danach um.
»Die Magadinoebene war vor der Flusskorrektur ein Sumpfland«, sagte sie und ihre Stimme klang zufrieden, als hätte sie gerade eben etwas hinter sich gelassen und für immer damit abgeschlossen.
»Nach starken Regenfällen steht hier aber manchmal noch immer alles unter Wasser und von der Landschaft ist nicht mehr viel zu sehen.« Bessell sah sie für einen kurzen Augenblick von der Seite an. Sie hatte ein hübsches Profil.
»Haben Sie sich schon entschieden, wo wir den Wagen stehen lassen wollen?« Frau Hengartner sah ihn an. Bessell fuhr in einen noch größeren Kreisel hinein.
»Zwischen Gordola und Brione wachsen gute Weine. Dort kann man um diese Zeit sehr schön spazieren gehen. Aber ich würde mit Ihnen heute viel lieber hinauf nach Orselina fahren«, sagte sie. Bessell beschleunigte auf einer Schnellstraße. Es war hundert erlaubt.
»Warten Sie, wir können vor dem Tunnel abfahren. Heute dürfte wenig Verkehr in der Stadt sein und durch den Tunnel fahre ich so ungern.« Sie fuhren oben durch die Stadt, etwa parallel zur Rivapiana, der Uferpromenade von Locarno.
»Sind Sie dort schon häufiger gewandert?«
»Nur gelegentlich und meist allein. Der Wanderweg ist sehr uneben und bisweilen recht steil und man braucht etwas Ausdauer.« Sie klang wieder bedrückter und fügte hinzu.
»Solcherlei Anstrengungen zu unternehmen, lag meinem Mann fern. Wenn er sich zu einem kurzen Wanderurlaub überreden ließ, dann fuhren wir nach Meran. Dort gibt es die Waalwege, die entlang der Bewässerungsgräben angelegt wurden, um sie instand halten zu können. Sie verlaufen fast waagerecht, und es ist nicht besonders anstrengend, dort zu wandern.«
Bessell nickte. Eigentlich hatte er gehofft, nicht zu schnell auf ihren Mann zu sprechen zu kommen, obwohl er wusste, dass er sich mit Frau Hengartner heute noch darüber unterhalten musste.
»Und wandern Sie gerne?«, fragte Frau Hengartner, nachdem sie einen Moment geschwiegen hatten.
»Doch, doch«, sagte Bessell und es war ehrlich gemeint und er fügte hinzu.
»Ich setze mir gerne Ziele dieser Art. Suche mir einen Ort oder Gipfel aus, den ich gerne erreichen würde und dann bin ich nur schwer davon abzubringen, egal welche Mühen ich dafür auf mich nehmen muss.« Er machte eine Gedankenpause.
»Nur mein Leben bringe ich natürlich nicht in Gefahr, es darf nicht überaus gefährlich sein, so weit geht mein Eifer dann doch nicht.«
Frau Hengartner lachte.
»Keine Angst, sportliche Ambitionen verfolge ich beim Wandern auch nicht.« Sie fuhren zwischen den Stadthäusern entlang. Bessell musste auf die vielen Motorroller achten, die überall zu sein schienen. Vor ihm, manchmal sogar an seiner Seite, links wie rechts und natürlich dicht auffahrend hinter ihm.
»So, Achtung, gleich hier rechts geht es hinauf nach Orselina.« Bessell sah das Schild und blinkte. Ein Mann auf einer Vespa, direkt an der Beifahrerseite, ließ sich etwas zurückfallen, so dass Bessell abbiegen konnte. Einige enge und steile Kehren führten ein Stück hinauf auf den Berg.
»Wir müssen nicht direkt nach Orselina«, sagte Frau Hengartner, als sie das Richtungsschild sah.
»Wir bleiben auf dieser Straße.«
Auf der linken Seite, etwas unterhalb der Straße, thronte über Locarno die ockergelbe Klosterkirche Madonna del Sasso. Bessell fuhr langsamer. Sie passierten die Seilbahnstation, deren Gondeln hinauf nach Cardada gezogen wurden.
»Gleich hier vorne befindet sich ein Parkplatz, dort können wir parkieren«, sagte Frau Hengartner mit unruhigem Blick.
Es war ein kostenpflichtiger Parkplatz, eine Art Parkdeck am Berg gebaut. Bessell betätigte den Ticketknopf. Nachdem er das Ticket entnommen hatte, öffnete sich die Schranke. Es stand nur noch ein roter VW Sharan auf dem Parkdeck. Frau Hengartner stieg aus, ging zielstrebig zum Kofferraum und öffnete ihn. Hier hatte sie ihre Wanderstiefel und die dicken Socken. Sie setzte sich quer auf den Beifahrersitz, so dass ihre Beine raus hingen. Bessell war dagegen startbereit. Er stellte sich vor sie und schaute in den Himmel, der blau und wolkenlos war. Dann sah er dabei zu, wie sie sich ihre dünnen Strümpfe von den Füßen streifte. Sie hatte die Hosenbeine dafür etwas hochgezogen. Ihre Waden waren glattrasiert und leicht gebräunt. Sie hatte hübsche Füße, die genauso jung geblieben waren, wie ihre Hände. Ihre Zehnägel waren in einem dezenten rosé lackiert. Sie bemerkte, dass Bessell ihr zusah, ließ sich aber nichts anmerken. Während Bessell anfing das Wetter zu kommentieren, zog sie die dicken Socken über ihre nackten Füße bis hoch zur Kniekehle und schlüpfte anschließend in ihre Wanderstiefel aus festem Leder. Es war immer ein dankbares Thema, sich über das Wetter auszulassen. Schön würde es bleiben und mit dem Wetter heute hätten sie wirklich Glück, dozierte Bessell. Dann waren sie startbereit. Gleich nachdem sie losmarschiert waren, erläuterte Frau Hengartner die Route, die sie sich für heute vorgenommen hatte. Bessell entschloss sich, erst nach der Wanderung über ihren Mann zu sprechen. Er wollte sie auf jeden Fall fragen, ob sie eine Vorstellung davon hatte, wer ihn getötet haben könnte. Der erste Teil der Wanderung führte über einen Treppenaufgang steil und schnurgerade an wenigen Häusern vorbei und hinauf zu einem kleinen Villenvorort von Orselina. Erst von hier aus ging es auf einen richtigen Wanderweg, der uneben, aber nicht besonders steil in langen Zickzackbahnen weiter hinaufführte. Sie gingen meist schweigend nebeneinander her. Beide genossen sie die schon wärmenden Sonnenstrahlen, die sie auf der anderen Seeseite zur Zeit so schmerzlich vermissten. Gelegentlich erzählte ihm Frau Hengartner etwas über das Tessin. Sie hatte sich ganz offensichtlich eingehender mit dem Land und den Leuten beschäftigt, obwohl sie nur wenige Worte italienisch sprach. Eine bettelarme Gegend sei das Tessin früher gewesen. Der Boden brachte nur karge Ernten ein. Es wuchsen hauptsächlich Roggen, Kastanien, Kartoffeln, Mais und Wein auf der Tessiner Erde. Daneben gab es viel Viehzucht, die der Landwirtschaft oft entgegenstand, weil die Tiere die Jungpflanzen schon im Frühjahr fraßen. Das Weiderecht war in dieser Beziehung sehr freizügig gewesen. Bessell hörte ihr bedächtig zu und hielt mechanisch mit ihr Schritt. Sie hatte ein gutes Tempo drauf, das Bessell ihr nicht zugetraut hatte. An der zweiten Wegkapelle blieben sie einen Moment stehen. Die Kapellen, die Cappellatta, waren ganz klein und man konnte sie nicht begehen.
»Solche Kapellen werden wir noch häufiger zu Gesicht bekommen«, sagte Frau Hengartner und lächelte Bessell dabei über die Schulter an.
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