1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 Ich lief einige Stunden herum, haderte mit meinem Schicksal und schämte mich dann wieder für meine finsteren Gedanken, imaginierte einen Flugzeugabsturz für Tobi (auf dem Weg zum Ballermann oder nach Thailand, das alte Ferkel) und Betreutes Wohnen für Papa und Mama, mit strenger Taschengeldzuteilung für Papa und abendlichem Ausgehverbot. War ich gemein, eine richtige Rabentochter! Aber andererseits... war ich denn der Flocki? Immerhin, nur noch ein doofer Feiertag, dann könnte ich mich wieder in lange, befriedigende Arbeitstage flüchten!
Als ich nach Hause kam, saßen Papa und Mama vor dem Fernseher und Tobi setzte dem Geprassel und Gepruste zufolge gerade das Bad unter Wasser, um sich für die Piste aufzuhübschen. Ich servierte schnell ein kaltes Abendessen, kümmerte mich um die Wäsche, sprach kein Wort und wischte das Bad auf, sobald Tobi daraus verschwunden war. Seine nassen Handtücher warf ich ihm ins Zimmer, in dem es aussah wie nach einem Bombeneinschlag. Sein Problem – hoffentlich schimmelte der Teppich!
Am Donnerstag ging es mir schon wieder viel besser; ich besuchte Professor Werzl in der Sprechstunde und bekam ein Thema, einen eher unbekannten einheimischen Maler, der um 1900 beliebt, aber heute völlig vergessen war – zu Recht? Das sollte ich herausfinden. Einige Tipps, wo seine Gemälde hingen, folgten, dann war ich wieder entlassen und konnte an die Arbeit gehen. Abgabe im Oktober, Prüfung im Dezember, Highlife ab Januar - 2004 würde mein Jahr werden!
Ich absolvierte zwei Führungen im Kunstbau, eine auf Deutsch, eine auf Französisch, brachte mein Honorar zur Bank, bestellte einiges in der Unibibliothek, kopierte mir im Lesesaal Basisinformationen, kaufte mir einen neuen Block und eine neue Mappe und setzte mich in die Cafeteria, um bei einem Mineralwasser eine Gliederung zu entwerfen und die kopierten Artikel zu lesen.
Erst gegen neun Uhr abends kam ich nach Hause.
Den Freitag verbrachte ich ähnlich, nur war die Bibliothek der Kunsthistoriker dran, und um sieben traf ich mich mit Irina, Bea und einigen anderen im Ratlos in der Emilienstraße, um zu besprechen, was wir Silvester machen wollten.
„Wir könnten doch einfach hierher kommen“, schlug Tim vor und seine Bartflusen wackelten eifrig. „Könnt ihr nicht“, sagte Birgit und stellte Biere auf den Tisch, „wir sind ausgebucht bis zur Halskrause, sorry. Was zu essen?“
Ich verzichtete, so viel Geld hatte ich nicht mehr, weil ich das meiste heute auf die Bank getragen hatte. Keine Schlafmünzen für mich!
„Muss der krasse Weihnachtsbaum sein“, witzelte Beas Freund Peter, „der sieht aus wie ein riesiger Nikolaus.“ Birgit freute sich über das Kompliment, aber wo wollten wir nun feiern? Und wie?
„Machen wir´s bei mir“, schlug Tim vor. „Jeder bringt was mit, Salat oder so, ich kauf ein Tragerl Bier und ein paar Flaschen Sekt, Peter bringt Raketen mit, ich lade noch ein paar Kumpels ein und dann geht die Post ab.“
Tim hatte eine schäbige Altbauwohnung, aber recht nette Mitbewohner. Eigentlich waren sie alle in Ordnung. Nicht mein Geschmack, aber liebe Kerle. Irgendwie nur furchtbar jung. Worüber die sich aufregen konnten! Verfehlte Scores, tiefergelegte Wagen, Bierpreiserhöhungen... natürlich auch öde Seminare, verpatzte Scheine, Finanzkrisen und Liebeskummer.
Ich trank meine Schorle, rauchte eine Zigarette und hörte den Gesprächen zu, versprach, einen extrascharfen Reissalat mitzubringen, hörte mir den neuesten Streit zwischen Bea und Peter an – zum Skifahren nach Österreich oder in die französischen Alpen? Währungstechnisch war es ja mittlerweile egal, aber die Vor- und Nachteile wurden erbittert diskutiert.
„Und wie läuft es zu Hause?“, fragte Irina zwischendurch leise. Ich winkte ab. „Wie immer eben. Noch ein Jahr, dann bin ich fertig und ziehe aus.“
„Wenn du mit einem WG-Zimmer zufrieden bist, dann kannst du auch gleich ausziehen. Bei uns wird eins frei, nur vierhundert Mark – also, zweihundert Euro warm. Nicht groß, aber mit einem schönen Blick.“
„Ich weiß nicht. Lieb von dir, aber ich glaube, ich möchte am liebsten ganz alleine wohnen. So was wie WG, nur mit Unsympathen, hab ich jetzt auch, und ich muss mir erst den Mechanismus abgewöhnen, mir alle Arbeit aufhalsen zu lassen. Ich hätte gerne ein ganz kleines Appartement, das ich ganz für mich allein habe.“
„Hast du eigentlich keinen Freund?“, fragte Tim, der anscheinend gelauscht hatte. Ich schüttelte den Kopf. „Wann soll ich denn das noch machen? Ich bin wirklich ausgebucht. Außerdem treffe ich nie wirklich tolle Männer.“
„Suchst du denn?“, fragte Irina schlau und grinste. „Nein“, musste ich zugeben und lenkte das Gespräch auf weniger verfängliche Themen.
Einen Freund? überlegte ich auf dem Heimweg. Wirklich, wann denn? Der würde mich sicher auch nur für diverse Hilfsdienste einspannen und mir mein bisschen Geld abnehmen... naja, das war sicher ein Vorurteil, aber Liebe? Pure Einbildung. Wenn einer sagte Ich liebe dich , dann wollte er etwas, soviel hatte ich schon gelernt – mit mir ins Bett, meine Zustimmung zu irgendetwas, irgendeinen Hilfsdienst oder ein Darlehen. Warum auch nicht, so schön war ich wirklich nicht.
Und das bisschen Sex als Gegenangebot für die Ausbeutung? Wirklich nicht, so spannend war das nicht. Gut, meine Erfahrungen hielten sich in Grenzen, einer mit neunzehn, einmal, und einer mit einundzwanzig, einige Wochen lang. Aber gefallen hatte es mir nie. Sicher, da gab es ein diffuses Gefühl der Erregung, das sich viel versprechend anließ, aber es führte zu nichts, nur zu Peinlichkeiten, Blut und Schmerzen. Ich hatte bei Bernie nie verstanden, warum er hinterher immer so wohlig seufzte und so ausgepumpt neben mich gefallen war. Ich war weder erschöpft noch zufrieden – aber was er gefühlt hatte und ich nicht, das wusste ich natürlich nicht. Als braves Kind hatte ich jedes Mal versichert, es sei toll gewesen. Vielleicht war es ja auch toll, und ich wusste es nur nicht zu würdigen? Vielleicht war ich zu kritisch oder konnte mich nicht entspannen, so dass ich nur die Grimassen, das Grunzen, den Schweiß und das unangenehm schmerzhafte Gefühl registrierte und nicht die Macht der Leidenschaft, die Wogen der Lust, die einem aus jedem Liebesroman entgegenschwappten. Und zur Selbsthilfe greifen? Nein, das erschien mir wie ein Eingeständnis der Niederlage, lieber nahm ich Sex nicht weiter wichtig. War er ja auch nicht. Ich wollte lieber alleine bleiben, arbeiten, Geld verdienen – vielleicht später mal einen netten Mann finden und die Nächte über mich ergehen lassen, um ein, zwei Kinder zu haben. Hieß es nicht, dass die meisten Ehepaare nach wenigen Jahren ohnehin keinen Sex mehr hatten? Dann müsste ich ja bloß abwarten.
Ich dachte darüber nach, wie der Kerl geheißen hatte, mit dem ich beim ersten Mal, auf diesem Fest kurz nach dem Abitur, geschlafen hatte. Martin? Markus? Max? Irgendwas mit M.... Michael? Ich hatte ihn vorher nicht gekannt, aber er war niedlich, ich war ein bisschen betrunken und fand es peinlich, als Jungfrau Abitur gemacht zu haben, also wollte ich wenigstens nicht auch noch als Jungfrau au pair arbeiten.
Er (Michael? Nein, doch eher Max) war mir gerne behilflich gewesen, aber die Entdeckung, dass ich noch Jungfrau gewesen war, freute ihn nicht, offenbar war ihm das zu anstrengend. Ich verkniff mir jeden Protest, als es weh tat und enteilte hinterher so schnell wie möglich, bevor er sehen konnte, wie sehr ich blutete. Zwei Tage lang hatte ich danach kaum sitzen können.
Nichts, was einen danach süchtig machen konnte! Und dafür sollte ich meine Pläne opfern? Dafür einen Kerl umsorgen und ihn dann auch noch finanzieren? Musste nicht sein...
Um acht sollte es bei Tim losgehen. Ich rührte meinen Salat an – nicht einmal Tobi traute sich angesichts meiner grimmigen Miene, zu behaupten, ich hätte die Zutaten nicht aus eigener Tasche bezahlt – und bunkerte ihn in meinem Zimmer, bis ich fertig angezogen war. Viel Mühe gab ich mir nicht, Jeans, ausgeschnittenes T-Shirt (ich kannte den bullernden Kohlenofen bei Tim, da war es immer furchtbar heiß), Stiefel, Pferdeschwanz, etwas Lipgloss und Puder.
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