Eine reichlich deprimierende Bilanz, stellte ich fest und schloss das Gartentor auf. Es quietschte leise, ich musste es morgen mal ölen. Bis auf Mamas roten Golf war die Auffahrt leer.
Ich schlich mich ins Haus, sperrte ab, ließ die Kette aber hängen und tappte in mein Zimmer, wo ich mich lautlos auszog, mich flüchtig abschminkte und wusch und schließlich ins Bett fiel. Was für ein deprimierendes Jahr tat sich vor mir auf! Öder konnte es nun wirklich nicht mehr werden.
Den Neujahrsvormittag verbrachte ich auf die gewohnte Weise – ich richtete ein Frühstück, das keiner einnahm, ich auch nicht, wusch und bügelte, räumte das Haus ein bisschen auf und setzte mich schließlich an meinen Schreibtisch. Gute Vorsätze!
Was sollte ich mir denn vornehmen? Mein Geld zu verdoppeln und den Magister zu bestehen, das reichte ja wohl. Wenn ich mich wahnsinnig beeilte, konnte ich dann schon im März abgeben? Drei statt der offiziellen sechs Monate Zeit? Das wurde eng... Oder mehr jobben? Zwei Nachmittage im Billigmarkt? Wann denn noch? Oder sollte ich alles absagen, mir einen Dauerbürojob suchen und ansonsten möglichst schnell den Magister machen?
Was würde eigentlich passieren, wenn ich einfach kein Kostgeld mehr zahlte? Dann würde Papa mich rausschmeißen, höchstwahrscheinlich. Oder doch ein WG-Zimmer? Sollte ich Irina fragen? Zweihundert Euro... dann blieben mir - hm, umrechnen… fünfhundert zum Leben, das musste doch reichen? Krankenversicherung, Handy für den Notfall, etwas zu essen... ich aß ja wirklich billig und wenig. Wenn es gar nicht mehr anders ging - ich hatte wirklich keine Lust auf ein Leben nach den Regeln anderer, das kannte ich schließlich schon. Andererseits war ich abgehärtet, es konnte eigentlich kaum noch schlimmer werden.
Als Papa draußen herumrumorte, ließ ich Vorsätze Vorsätze sein, es kam ja eh nichts dabei heraus. Er verschwand in seinem Arbeitszimmer (pompös, in dunkler Eiche, ganz der Vorstandsvorsitzende, zu dem er es nie gebracht hatte). Ich wollte ihn gerade, voller Neujahrsmilde und töchterlicher Ergebenheit, fragen, ob ich ihm einen Kaffee bringen sollte, als ich merkte, dass er telefonierte. Ich lauschte, nur mäßig beschämt.
„Nein. Ich brauche mehr Zeit. Etwa einen Monat, oder zwei.“
„Ich versuche es doch! Eine derartige Summe...“
„Sind Sie wahnsinnig? Dann kriegen Sie gar nichts.“
„Hören Sie auf, mir zu drohen. In zwei Monaten, sicher. Gut, machen wir den ersten März fest.“
Er legte auf und ich hob schon die Hand, um an die angelehnte Tür zu klopfen, als er wieder den Hörer abnahm und hastig eine Nummer eintippte. Auswendig, wie mir schien. Ich ließ die Hand wieder sinken und horchte weiter.
„Ich habe über Ihren Vorschlag nachgedacht.“
„Ja, ich weiß zwar nicht, warum, aber ich rede mit ihr.“
„Nein, das muss man diplomatisch machen...“
Papa und diplomatisch? Da lachten ja die Hühner!
„Wenn diese Notlage nicht wäre... Ja, gut, ich versuche es.“
„Aber sagen Sie mir eins: Warum?“
„Nein, da haben Sie wohl Recht, ich verstehe es wirklich nicht. Aber ich bin Ihnen für Ihr Angebot wirklich dankbar. Nur, von mir alleine hängt das nicht ab, das wissen Sie. Wollen Sie nicht selbst...?“
„Ja, das stimmt natürlich, das habe ich nicht bedacht. Ich rufe Sie wieder an.“ Hm, das klang nach Schulden und dem Versuch, von irgendjemandem Geld zu pumpen. Mit wem wollte er reden? Mit Mama, dass sie ihr Erbe flüssig machte? Sie würde blau anlaufen! Und dann wäre sie finanziell ganz von ihm abhängig, dann könnte sie ja verhungern! Und ich würde im Leben nicht so viel verdienen, dass es für sie auch reichte...
Dieser unzuverlässige Sack, hatte er mal wieder gespielt? Ein Vermögen verzockt und mit heißen Miezen durchgebracht? Der kriegte keinen Kaffee! Ich nahm mir meinen Mantel und verließ das Haus – ein Spaziergang würde meine Laune sicher wieder bessern.
Ich trabte den Zollhausweg entlang, passierte das neue Stadtteilmuseum im alten Zollhaus und bog in die Puellstraße ein. An der vom Blitz getroffenen Eiche vor dem ersten Haus lehnte jemand und löste sich bei meinem Näherkommen vom Baumstamm.
„So sieht man sich wieder.“ Der Satz verfolgte mich offenbar, aber es war tatsächlich Freddy. „Hallo“, meinte ich eher lustlos, „ein gutes neues Jahr und so.“
„Sie sind schlecht gelaunt?“
„Ach, es geht schon. Ein bisschen Neujahrsblues.“
„Wollen Sie spazieren gehen?“
Schlaue Frage – was sollte ich in der extrem unspannenden Gegend an einem Feiertagsmittag sonst machen? „Ja“, antwortete ich mürrisch.
„Darf ich Sie begleiten?“
„Meinetwegen. Aber ich bin keine charmante Gesellschaft, Sie sind gewarnt.“
„Das bin ich auch nicht, machen Sie sich keine Gedanken.“
„Wohnen Sie hier in der Gegend oder ist das ein Zufall?“
„Ein Zufall ist es nicht direkt.“ Blöder Geheimniskrämer. Ich fragte nicht nach, den Gefallen würde ich ihm nicht tun!
„Und warum sind Sie keine charmante Gesellschaft?“
Tat der eigentlich noch etwas anderes als mich auszufragen? Und warum antwortete ich ihm so bereitwillig? Jetzt wieder! „Neujahrsfrust, denke ich. Das habe ich eben doch schon gesagt, oder? Sie wissen schon, gute Vorsätze, aber welche? Ist das Leben zufrieden stellend oder nicht?“
„O ja, ich weiß. Dann haben wir heute wohl die gleichen finsteren Gedanken gewälzt.“
„Sie auch?“
„Natürlich. Wer ist schon mit seinem Leben zufrieden? Aber ich bin immerhin fest entschlossen, das zu ändern.“
„Inwiefern?“
„Ungelegte Eier. Das erzähle ich Ihnen vielleicht später einmal.“
Bitte, dann eben nicht!
„Was macht Ihre Familie?“
„Wahrscheinlich ärgern sie sich gerade, weil ich kein Mittagessen gekocht habe“, murmelte ich voll finsterer Zufriedenheit.
„Drei erwachsene Menschen können sich nicht selbst etwas kochen?“
„Ich glaube nicht. Meine Mutter hat Herzprobleme.“
Er nickte langsam, als sei ihm das schon bekannt. „Mein Vater sieht nicht ein, dass er kochen soll, und mein Bruder findet, für niedrige Arbeiten sind Weiber da.“
„Und deshalb spielen Sie Cinderella?“
„Tu ich nicht.“
„Ach nein?“ Er sah mich von der Seite an und lächelte. Etwas spöttisch, aber es stand ihm ganz gut, er sah weniger streng aus.
„Nein! Cinderella war eine dumme Pute, die wartete, dass eine Fee ihr einen Prinzen verschafft, für den sie dann wahrscheinlich genau die gleiche Arbeit machen musste.“
„Und war das so schlimm?“
„Wenigstens sehe ich nicht, wo da die Verbesserung ist. Klar, die Märchen sollten ja wohl Wohlverhalten lehren, wer brav ist und jeden Ärger widerspruchslos schluckt, kriegt am Ende einen Prinzen. Mir ist die Goldmarie lieber.“
„Goldmarie... ja, Frau Holle, nicht? Aber die ist doch auch häuslich und fleißig?“
„Ja, aber sie verdient sich dadurch Geld. Und am Ende wäre ich an ihrer Stelle nicht zur bösen Stiefmutter zurückgekehrt, sondern hätte mir ein kleines Häuschen gekauft und glücklich für mich gelebt.“
„Das wäre Ihr Traum?“
„Ja“, seufzte ich. „Aber erst muss ich mit meinem Studium fertig werden, dieses Jahr. Dann kommt das Leben. Ich hab lange nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich mich für eine andere Art Leben nicht eigne.“
„Keine Liebe?“
„Nicht schon wieder! Daran glaube ich nicht.“
„Hm. Eigentlich haben Sie Recht, aber Sie klingen so bitter, das finde ich doch schade. Wie alt sind Sie?“
„Vierundzwanzig. Und Sie?“
„Älter. Viel älter.“
„Wie drückt sich das in Zahlen aus?“, hakte ich ungeduldig nach.
„Warum wollen Sie das wissen?“
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