„Und wenn du einen richtigen Job hast? Dann überlässt du sie ihrem Schicksal?“ Jetzt hatte sie den Finger auf die wunde Stelle gelegt. „Vielleicht weiß ich bis dahin, wie man ihr helfen kann – oder ob man ihr überhaupt helfen muss. Jetzt jedenfalls kann ich noch nicht weg, obwohl ich sowieso die meiste Zeit nicht da bin. Ach, Irina, ich weiß selbst, dass das alles furchtbar unlogisch ist!“
„Kein Wunder, du willst ihr helfen, traust ihr aber nicht so ganz, und die anderen schikanieren dich. Da wäre ich wohl auch etwas konfus. Vielleicht muss ein Prinz auf einem weißen Ross kommen und dich da wegheiraten.“
„Wie bei Aschenputtel?“ Ich musste lachen. „Das hat mir doch schon mal jemand vorgeschlagen… Vom Regen in die Traufe, was? Nein, das ist keine Lösung. Schau, ich brauche sicher noch ein Jahr, bis ich mit der Uni ganz fertig bin, und bis dahin sehe ich sicher klarer.“
„Und wenn du mich brauchst, weißt du hoffentlich, wo du mich findest, ja?“
Ich nickte dankbar. „Ja. Keine Sorge, ich belästige dich bestimmt.“
„Soll ich dich mal besuchen kommen? Nur kurz? Dann könnte ich einen Blick auf die Mischpoke werfen. Außenstehende sehen manchmal klarer, heißt es.“
„Das wäre vielleicht nicht schlecht“, antwortete ich langsam, „aber das kann ich dir kaum zumuten. Tobi ist wirklich – naja, also...“
„Er wird mich begrabschen und ich trete ihm mit Schmackes in die Eier? Es wird mir ein Vergnügen sein!“ Ich verschluckte mich vor Lachen an dem letzten Stück Breze.
Wir setzten das am Ende der zweiten Uniwoche tatsächlich in die Tat um; ich brachte Irina mit, als ich gegen sechs, mit Einkäufen beladen, nach Hause kam. Sie hatte versprochen, sich über rein gar nichts zu wundern oder zu empören. Wir wuchteten die Einkaufstüten in die Küche und packten gerade aus, als Mama plötzlich in der Küchentür stand.
„Du hast Besuch, Kind?“ Besuch klang aus ihrem Munde irgendwie unfein, als hätte ich unser Haus entehrt oder so. Tatsächlich hatte ich seit über zehn Jahren niemanden mehr mitgebracht.
„Ja, das ist Irina Suchow, wir wollen zusammen an einem Referat arbeiten.“
„Schön, schön, Kind.“ Sie reichte Irina die Hand, die den schlaffen Händedruck sichtlich ängstlich erwiderte.
„Kannst du mir einen Tee machen? Ich fühle mich heute gar nicht so recht... Aber natürlich möchte ich dir keine Last sein...“
„Leg dich nur hin, ich bring dir deinen Tee gleich. Magst du heute Abend Scholle, Reis und Gemüse?“
„Ja, vielleicht eine ganz kleine Portion. Aber wenn ihr arbeiten wollt...“
Die ersterbende Stimme reizte mich, und ich zwang mich, begütigend zu sprechen, während ich den Wasserkocher einschaltete und die Teekanne anwärmte. Irina räumte stetig die Tüten aus und faltete sie dann zusammen, wohl aus lauter Verlegenheit. Mama seufzte auf und verließ langsam die Küche. Hastig verräumten wir die Einkäufe, für die Mama mir immerhin achtzig Euro schuldete (das mit dem Vorherkassieren klappte nicht so recht), ich brachte Mama den Tee und wir deckten den Tisch für das Abendessen.
Wir hatten gerade mal für ein kurzes Gespräch in meinem Zimmer Zeit, wo Irina sich wunderte, wie wenig ich besaß, dann war es Zeit, den Reis aufzusetzen und das Gemüse vorzubereiten.
Papa telefonierte laut und gereizt im Arbeitszimmer, und als ich gerade die Schollen in der Pfanne wendete und Irina den Brokkoli in eine vorgewärmte Schüssel füllte, knallte die Haustür zu, ein Schlüsselbund flog krachend auf die halbantike Bauernkommode, und Tobi rief etwas Unverständliches.
Wir servierten und riefen alle zu Tisch.
Papa war schlecht gelaunt, er warf Irina, als ich sie korrekt vorstellte, nur einen mürrischen Blick zu, als überlegte er, wie viel sie ihm wegessen würde. Tobi musterte sie anerkennend, wobei sein Blick länger auf ihrem hübschen Busen verweilte, der unter dem Norwegerpulli kaum sichtbar war – aber einer wie Tobi wusste, wo er suchen musste.
„Und du bist tatsächlich eine Freundin von Natti?“
„Ja, warum denn nicht?“ Sie sah ihn ruhig an.
Er zuckte die Achseln und bediente sich großzügig aus allen Schüsseln. „Wieso denn Fisch? Ich möchte mal ein anständiges Steak! Hast du einen Freund, Schätzchen?“
„Ich heiße Irina, nicht Schätzchen. Ja, habe ich.“
„Kaum zu glauben.“ Tobi funktionierte perfekt – wenn man ihn vorführen wollte, war er tatsächlich noch dämlicher als sonst. „Warum kaum zu glauben?“
„Eine richtige Frau – und ist mit unserer faden Urschel befreundet? Wahrscheinlich macht die kleine Streberin dir die Hausaufgaben, während du dich amüsierst, stimmt´s?“
„Kaum. Dem entnehme ich, dass Sie -“ sie betonte das Sie so, dass man merkte, wie ungern sie sich ungefragt duzen ließ – „kein Streber sind?“
„Da vermutest du richtig, Schätzchen. Ich weiß die schönen Dinge des Lebens zu genießen. Und du auch, glaube ich.“
„Was hatten Sie für einen Examensschnitt?“
„Geht dich einen Scheiß an, Schätzchen. Wie hast du´s am liebsten? Von vorne? Von hinten?“
„Geht dich einen Scheiß an, Schätzchen“, flötete Irina zurück. Tobi wurde dunkelrot und lachte dann verächtlich. „Noch so eine frigide Streberin! Dein armer Freund! Na, wahrscheinlich hast du ihn dir eh nur ausgedacht, um dich vor mir interessant zu machen.“
„Ach ja? Warum sollte mir daran liegen, vor Ihnen interessant zu wirken?“
„Spiel nicht die Spröde, Schätzchen, ich hab schon verstanden.“
Irina lachte schallend los und hielt sich im letzten Moment die Serviette vor den Mund, um nicht ihr Essen über den Tisch zu sprühen. Mama guckte geschmerzt, Papa musterte Irina angewidert.
„Einbildung ist auch ´ne Bildung, was?“, prustete Irina, als sie wieder Luft bekam. „Nathalie, du hattest Recht, er ist zum Schießen!“
Tobi wurde bleich vor Wut, Papa räusperte sich mahnend. „Junge Frau, Sie sind Gast in diesem Haus. Es gehört sich nicht, die Gastgeber zu beleidigen.“
„Es gehört sich auch nicht, einen Gast wie eine Nutte zu behandeln!“, fauchte Irina zurück. „Der Charme Ihres sauberen Sohnes gipfelt wohl darin, am Ende mit einem Zehneuroschein zu wedeln?“
Papa senkte den Kopf und aß weiter. Ich schob das Reishäufchen, das das Einzige war, was ich in den Schüsseln noch vorgefunden hatte, auf meinem Teller herum und schämte mich für meine Familie. Dass Irina das lustig fand? Und Mama sagte mal wieder gar nichts. Doch, jetzt seufzte sie. „Kind, es tut mir wirklich Leid, aber dieser Fisch ist mir zu fett. Kannst du mir etwas Leichteres machen, ein Omelett vielleicht?"
Ich nickte ergeben. Dabei hatte ich die Schollen extra fettarm gebraten! Irina folgte mir in die Küche, wo ich ein Omelett aus einem Ei und einem zusätzlichen Eiweiß aufschlug und in die Pfanne goss.
„Dass du über Tobi lachen kannst?“, wunderte ich mich dabei.
„Lachen? Ich wollte ihn doch nur ärgern. Ich finde ihn – mit Verlaub – zum Kotzen. Und wie er über dich redet!“
„Er ist ein ordinärer Schleimbatzen. Sorry, aber zu meinem Bruder fallen mir nur grobe Ausdrücke ein. Pass auf, ich bringe nur Mama ihr Omelett und räume den Tisch ab, dann verschwinden wir in meinem Zimmer.“
Tobi war verschwunden, seine Stoffserviette hatte er in die Schüssel mit dem Brokkoliwasser geworfen. Ich fischte sie heraus und hängte sie über seine Stuhllehne, wo das grünliche Ding trocknen konnte. Mama nahm das Omelett mit schmerzlichem Lächeln entgegen. Papa warf mir einen halb finsteren, halb verlegenen Blick zu und verschwand im Arbeitszimmer.
Während Mama aß, räumte ich den Tisch ab.
„Meinst du, deiner Freundin gefällt es bei uns?“, fragte Mama schließlich mit schwankender Stimme. „Warum sollte es? So, wie Tobi sich benommen hat?“, antwortete ich zornig und warf das Besteck klirrend in die leere Reisschüssel.
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