„Vitamin C, Ballaststoffe und guter Geschmack. Was hätten Sie denn essen wollen?“ Er zuckte die Achseln und schälte sich eine Mandarine. „Scaloppine? Oder etwas Französisches?“
„Und dann den ganzen Nachmittag verpennen? Das wäre mir zu schwer gewesen.“
„Und außerdem essen Sie kein Fleisch, stimmt´s?“
„Probieren Sie Schubladen aus? Selten, aber ich bin keine Vegetarierin. Ich esse einfach nur, worauf ich Lust habe, und ich mag Mandarinen und diese Semmeln, da sind Walnüsse drin. Schmeckt total weihnachtlich.“
„Mögen Sie Weihnachten?“ Ich kramte meinen zweiten Becher aus der Tasche und schenkte Mineralwasser ein. „Nein. Nur die Gerüche und solche kleinen Erinnerungen. Der Familienkram, die Geschenke, die Werbung, das pseudofromme Getue – wirklich nicht. O, Scheiße!“
„Was ist denn?“
„Ich brauche noch Weihnachtsgeschenke. Jetzt ist es – ach, erst halb drei. Na, das geht schnell.“
„Weihnachtsgeschenke“, sagte er in einem Tonfall, als wüsste er gar nicht, was das war. „Für wen? Ihren Freund?“
„Lassen Sie das. Für meine Eltern und meinen Bruder. Aber da ich von denen wahrscheinlich gar nichts kriege, gebe ich mir auch nicht besonders viel Mühe. Whiskey für die Herren, der verbraucht sich wenigstens, und Mama kriegt ihr Lieblingsparfum, darüber freut sie sich wohl wirklich.“ Hatte meine Stimme etwas bitter geklungen? Seine Augen wirkten plötzlich schmaler.
„Warum kriegen Sie nichts?“ Ich zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich sind alle zu beschäftigt dazu. Mir ist das egal.“
„Wirklich?“
„Ja, wirklich! Und, haben Sie schon alle Geschenke?“
„Sozusagen.“ Er starrte an mir vorbei ins Leere. „Nein, ich wüsste niemanden, dem ich etwas schenken könnte. Nur Leute, die Geld erwarten und es auch kriegen.“
Huch? Das passte aber jetzt nicht zu der Schublade, in die ich ihn gesteckt hatte. Oder meinte er einfach Trinkgelder? Ja, wahrscheinlich. Ich betrachtete ihn unauffällig, während er seine Semmel auseinanderbrach und verblüfft das bunt gescheckte Innere betrachtete. An den Schläfen wurde er schon etwas grau, vielleicht war er auch schon über vierzig. Ein Vaterersatz? Papa war als Vater ja wirklich ein Totalausfall!
Er verzehrte schweigend seine Semmel. „Schmeckt wirklich gut“, kommentierte er dann, sobald er sorgfältig die Brösel von seinem feinen Zwirn gewedelt hatte, und schälte die zweite Mandarine.
„Sie haben Recht, das ist wirklich eine interessante Mahlzeit gewesen. Jetzt fühle ich mich richtig fit. Was machen wir als Nächstes?“
„Wir? Sie kriegen aber auch den Hals nicht voll, was? Ich kaufe jetzt schnell diese Weihnachtsgeschenke, und dann muss ich sowieso ins Museum. Und hinterher Schreibarbeiten. Und dann fahre ich heim und bereite mich auf morgen vor. Wahnsinnig aufregend!“
„Eine Weile halte ich das schon noch aus. Also, Parfum und Whiskey, ja?“
Er folgte mir zum Supermarkt und in die Discountparfumerie, wo ich zu Mamas Femme eine Menge Pröbchen kassierte. Leider fast alle mit Herrenduft! Ich betrachtete mir draußen etwas betrübt die Ausbeute, sortierte die Gesichtscreme und die zwei Eau de Toilette aus und drückte Freddy den Rest in die Hand. „Hier, zum Ausprobieren!“
Er bedankte sich etwas verblüfft. „Öfter mal was Neues... Eigentlich war ich mit meinem Rasierwasser bis jetzt ganz zufrieden. Gefällt es Ihnen nicht?“
„Weiß ich nicht, mir ist nichts aufgefallen.“
„Dann schnuppern Sie doch mal!“ Ich warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Danke, nicht notwendig. Sie können die Proben ja auch wegwerfen.“
„Ich denke nicht daran. Was steht jetzt gleich wieder auf dem Programm?“
„Museum. Kunstbau. Waren Sie da schon mal?“
„Ja... ich denke schon. Kann ich mir Ihre Führung anhören?“
„Wenn Sie nichts Besseres vorhaben?“ Ich verkniff mir ein Lächeln und ließ mich zum Museum geleiten. Freddy kaufte sich eine Karte, während ich in den hinteren Regionen verschwand, wo ich mir meine ID ans Revers heftete und noch einmal durchlas, was ich heute zu erklären hatte.
Dann trat ich wieder in die Halle, wo schon zwei Grüppchen versammelt hatten. Ich verhandelte kurz mit einer Reiseleiterin und trat dann zu ihrer Gruppe. Freddy stand bei der anderen und sah sich etwas ratlos um.
„ Mesdames et Messieurs... “ Ich bat um Aufmerksamkeit und begann mit der Führung, wobei ich aus den Augenwinkeln bemerkte, wie Freddy hastig die Gruppe wechselte und sich dann offenbar sehr bemühte, meinem Vortrag zu folgen. Tja, ein Jahr Au pair in Paris, das half schon, vor allem, wenn man alle Kataloge der Pariser Museen auf Französisch besaß und so den ganzen Wortschatz draufhatte!
Eine Dreiviertelstunde lang erklärte und deutete ich, beantwortete Fragen und diskutierte mit einem älteren Herrn, der meine Aussagen akribisch anhand seines Reiseführers überprüfte, über die Provenienz eines Rokokogemäldes. Schließlich verabschiedete ich die Gruppe, kassierte ein nettes Trinkgeld, machte die Termine für die Woche nach Weihnachten mit der Sekretärin aus und sammelte den etwas benommenen Freddy in der Halle wieder ein.
„Na, alles klar?“
„Sicher. Eine sehr kompetente Führung. Nur, was den einen Watteau betrifft, da bin ich ja nicht ganz Ihrer Meinung.“
„Was?“ Ich starrte ihn verblüfft an, bis er lachte. „Reingefallen. Ich habe keine Ahnung, ob hier Watteau von Fragonard oder umgekehrt beeinflusst wurde. Aber Sie haben sich mit diesem älteren Herrn tapfer herumgeschlagen.“
„Ja, nicht? So einer ist immer dabei, das bin ich schon gewöhnt.“
„Machen Sie das schon lange?“
„Drei Jahre etwa. Das und meine anderen Jobs, damit komme ich ganz gut durch.“
„Und was machen Sie sonst so?“ Er hielt mir die Türe auf.
„Schreibarbeiten und kassieren, im Billigmarkt. Das ist anstrengender, aber es bringt am meisten. Oder brächte am meisten, wenn ich es nicht nur einen Nachmittag machen würde.“
„Warum tun Sie sich das an? Neben dem Studium – ist das nicht furchtbar anstrengend?“
„Man gewöhnt sich daran. Ich brauche das Geld, ich muss zu Hause etwas abgeben und möchte ab und zu auch entweder etwas anlegen oder mir etwas kaufen, zum Beispiel einen Wintermantel.“
Er lächelte etwas verloren. „Warum sind Ihre Eltern so hart?“
„Sind sie das? Ich meine, ich bin volljährig, warum sollte ich nicht selbst für mich sorgen? Gut, ich kann es noch nicht richtig, sonst würde ich ja nicht mehr dort wohnen, aber ich versuche es wenigstens.“
„Haben Sie Geschwister?“
„Einen Bruder“, gab ich ungern zu.
„Und der sorgt auch für sich?“
„Der findet keinen Job.“
„Was hat er für eine Ausbildung?“
„Er ist Diplombetriebswirt. Ich glaube, er sucht nicht gründlich genug. Ach, lassen wir das. Ich mache, was ich für richtig halte, und wenn Tobi das nicht tut, ist es sein Problem.“
„Sehr aufrecht.“
„Was? Wie meinen Sie das?“
„Ihre Haltung.“
Ich zuckte die Achseln. „Wenn Sie meinen. Ich fürchte nur, hier können Sie nicht mitkommen. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.“
Ich hielt ihm die Hand hin; er drückte sie fest und sah auf mich herunter. „Da bin ich ganz sicher. Ich bitte Sie aber nicht um Ihre Telefonnummer, schließlich liebe ich die Herausforderung.“
Ich sah in seine Augen. Ganz hellgrau, wie der Himmel an einem trüben Tag. Und ziemlich lange, dunkle Wimpern, ungewöhnlich für einen Mann.
„Tja, dann – einen schönen Abend noch. Und frohes Fest und so...“
Damit verschwand ich im Kunsthistorischen Institut.
Zwei Stunden lang tippen, ablegen, Bänder sortieren, ein unordentliches Büro aufräumen. Zweimal die Woche, das waren immerhin hundertzwanzig Mark – schwarz -, dazu hundert Mark vom Billigmarkt und pro Führung netto etwa vierzig Mark, also in der Woche im Schnitt etwa hundertzwanzig. Dreihundertvierzig in der Woche, also gut vierzehnhundert im Monat, davon kassierte Papa vierhundert, zweihundert durfte ich ausgeben, achthundert legte ich an. Zum Ärger meiner Freundinnen aus der Projektgruppe und aus den anderen Kursen, die fanden, ich sollte mir öfter etwas gönnen und nicht so verbissen sparen. Die wohnten ja auch in schnuckeligen Appartements, die ihnen ihre Eltern finanzierten, in chaotischen WGs oder mit ihren Freunden richtig solide in bürgerlichen Dreizimmerwohnungen.
Читать дальше