„Werd bloß nicht frech!“
Ich prustete durch die Nase und ging wieder. Bis ich Mamas und meinen Mantel ergattert, Mama in ihren Pelz geholfen, meinen Mantel umgehängt, unsere Taschen genommen, Mama nach draußen geleitet, ein Taxi herangewunken und Mama auf dem Rücksitz verstaut hatte, war es fast zwölf. Erleichtert sagte ich zum Fahrer: „Leiching, Zollhausweg“, und lehnte mich zurück. Wieder für ein Jahr geschafft! Und nächstes Jahr würde ich auf jeden Fall eine Ausrede haben... Notfalls eine Exkursion!
Ich half Mama noch beim Zubettgehen, küsste sie auf die Stirn und verzog mich in mein Zimmer. Was lag morgen an? Zwei Vorlesungen, ein Seminar, nachmittags eine Führung und am frühen Abend zwei Stunden Forschungsgruppe. Vor neun käme ich nicht nach Hause, ausgezeichnet!
Ich zog mich aus, hängte das Kleid sorgfältig auf, warf alles andere in die Schmutzwäsche, schlüpfte in meinen Pyjama und ging mich waschen und abschminken. Dass ich mit Tobi ein Bad teilen musste, war absolut furchtbar, man konnte wirklich nichts im Bad stehen lassen, ohne dass er es verbrauchte, ausgoss oder von der Konsole fegte, um Platz für seine Schönheitsmittelchen zu haben. Als ob die bei ihm noch was geholfen hätten!
Also hatte ich schon vor Längerem zum altbewährten Kulturbeutel gegriffen; sogar meine Handtücher hängte ich hinterher in meinem Zimmer auf, das ich stets sorgfältig abschloss. Und mein Rechner war mit einem nicht knackbaren Code gesichert, seitdem Tobi mal auf meine Kosten zu diversen Pornoseiten gesurft war und vergessen hatte, sie in der Favoritenliste wieder zu löschen. Zu allem zu blöde! Studierter Betriebswirt, schicke Praktika in schicken Firmen, aber nicht genug Raffinesse, dabei Beziehungen aufzubauen und so eine Stellung zu ergattern.
Also lag er unseren Eltern auf der Tasche. Mama pflegte nur zu seufzen, Papa fand, dass Tobi sich nicht wegwerfen sollte und deshalb ruhig auf das wirklich tolle Angebot warten könnte. Mein Vorschlag, er könnte doch wenigstens jobben, war verächtlich abgetan worden. Tobi bekam von Papa fünfzehnhundert Mark im Monat, als Taschengeld, außerdem Kost und Logis nebst Wäscheservice frei - und er finanzierte ihm sein Cabrio.
Ich fuhr mit dem Bus – außer, wenn ich den Wocheneinkauf machte, dann durfte ich Mamas Golf nehmen, bekam überhaupt kein Taschengeld und aß auf eigene Rechnung in der Nähe der Uni. Zum Dank wurde ich als frech und undankbar beschimpft und Tobi wurde mir als Vorbild hingestellt. Papa war wirklich unmöglich! Aber nächstes Jahr, wenn ich fertig war, dann war Schluss mit den Blödeljobs, dann wurde richtig gearbeitet, egal, was. Hauptsache, von acht bis fünf und so viel Geld, dass es für ein kleines Appartement reichte. Ich sparte schon wie verrückt, aber weder das Museum noch die Forschungsgruppe zahlten besonders gut. Und der eine Nachmittag an der Supermarktkasse – naja, ein Nachmittag brachte einfach nicht genug.
Der Typ heute war seltsam gewesen. Fragte mich da einfach aus, ohne sich vorzustellen. Gut, er konnte Walzer tanzen, aber das half einem im täglichen Leben auch nicht weiter. Sicher irgendein Sachbearbeiter, der im Smokingverleih Glück gehabt hatte! Immerhin hatte er einen Rest von Stil bewiesen und mich nicht angeödet, dass er mich wiedersehen oder anrufen wollte. Das hätte mir gerade noch gefehlt! Allerdings – diese komischen Augen hätte ich mir noch mal aus der Nähe ansehen wollen. Naja, zu spät, auch egal.
Außerdem hatte ich morgen ordentlich zu tun und sollte jetzt lieber schlafen.
Papa und Tobi kamen gegen halb vier Uhr morgens nach Hause und machten reichlich Krach dabei. Sicher hatten sie dem Glühwein nicht widerstehen können – und hoffentlich hatten sie morgen einen Granatenschädel! Mit diesem erhebenden Gedanken drehte ich mich noch einmal im Bett um.
Um sechs stand ich auf, sicher, dass ich das Bad für mich hatte, duschte genüsslich, zog mich so an, dass es den ganzen Tag passte – dunkelblaue Jeans, blassrosa Rollkragenpullover, blaues Tweedsakko, packte meinen Unikram ein, kontrollierte, ob mein Zimmer aufgeräumt und Tobi-sicher verschlossen war, und verließ das Haus gegen sieben Uhr. Zu früh für alles, aber ich sah nicht ein, dass ich auch noch das Frühstück vorbereiten sollte. Mama blieb morgens ohnehin im Bett, und die beiden Suffköppe sollten eben ein Weißbier trinken. Als ich an der Uni aus der U-Bahn stieg, kaufte ich mir am Backshop-Stand zwei Brezen. Das musste reichen! Wasser gab es in allen Unitoiletten, und einen Becher hatte ich dabei.
Um acht saß ich satt und zufrieden im Hörsaal und schrieb fleißig mit – Bauhausarchitektur, Dekoration und Malerei der Neuen Sachlichkeit , sehr interessant, und es wurden auch ziemlich anständige Kopien ausgeteilt. Nach zwei Stunden tat mir die Hand weh; ich packte ein und eilte ins kunstgeschichtliche Seminar, eine alte Villa am Anfang der Graf-Tassilo-Straße. Wieder zwei Stunden, Theoretische Grundlagen des Kubismus . Mein Referat hatte ich schon gehalten, unser Gruppenprojekt war auch schon erledigt, also genügte es, ein bisschen mitzudiskutieren, um in den Augen des Professors als „viel versprechend“ zu gelten, schließlich wollte ich bei ihm meinen Magister machen.
Zwischendurch schrieb ich mir mit Irina und Bea, meinen Gruppengefährtinnen, Zettelchen. Sie wollten hinterher Pizza essen gehen, aber ich hatte noch eine Vorlesung – Pieter Paul Rubens und seine Zeit . Und zu geizig für eine Pizza war ich auch!
Warum gar so eifrig? , stand auf dem nächsten Zettelchen. Ich will ja mal fertig werden , schrieb ich zurück, sobald der Professor wieder mit dem Kursschleimer in einer verbissenen Diskussion feststeckte. Nächste Woche Ratlos?
Gut, du Streberin , schrieb Irina zurück. Ich wollte den beiden nicht erzählen, wie es bei uns zu Hause aussah und warum ich dringend ausziehen wollte, sobald das Geld ausreichte. Immerhin schienen sie jetzt zufrieden zu sein.
Überhaupt erzählte ich nicht gerne von mir, wenn ich ehrlich war. Die einzige, die wusste, wie es bei uns manchmal zuging, war Esther, meine Freundin seit Schultagen – aber sie studierte, begabt wie sie war, in Cambridge. Musste sie nicht langsam fertig sein und zurückkommen? Ich sollte ihre Eltern vielleicht mal anrufen... Sobald ich die entsprechende Notiz an den Rand meiner Seminarnotizen gekritzelt hatte, passte ich wieder etwas auf und erweckte den gebotenen viel versprechenden Eindruck. Der Professor reagierte offensichtlich angetan, und ich beschloss, ihn gleich heute auf ein Magisterthema festzunageln – im achten Semester wurde es langsam auch Zeit, fand ich.
Während Irina und Bea bei einer Zigarette mit den wenigen vorzeigbaren männlichen Kunstgeschichtlern auf dem Gang standen und die üblichen Balzrituale vollführten, trug ich dem Professor mein Anliegen vor. Er nickte ernst und bat mich für nächsten Donnerstag in seine Sprechstunde, bis dahin sei ihm sicher etwas eingefallen. Jahrhundertwende sei doch mein Interessenschwerpunkt, nun, da gebe es ja Hunderte von Malern und Graphikern, deren Werk einmal grundlegend gesichtet und nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten bewertet und eingeordnet werden müsste, wahre Desiderate gebe es da, nur auf Anhieb falle ihm leider keins ein, aber unmittelbar vor den Weihnachtstagen sei das wohl auch nicht so dringend, nicht wahr, aber selbstverständlich werde er sich intensiv Gedanken machen und mir in der Sprechstunde sicher attraktive Angebote machen können.
Etwas atemlos hielt er inne, und ich betrachtete ihn milde erstaunt. Wieso so aufgeregt? Wäre ich dann seine erste Magisterkandidatin? So jung war er doch gar nicht mehr? Sonst redete er doch auch nicht so viel und so planlos? Ich notierte mir brav den Termin, wünschte ein frohes Fest (nichts war mir gleichgültiger als dieses bescheuerte Weihnachten) und gesellte mich, innerlich den Kopf schüttelnd, zu Irina und Bea.
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