In etwas verkniffenem Schweigen bestiegen wir Papas großen Mercedes, Tobi und ich wie immer auf dem Rücksitz. Ich zog wie immer sofort die Armlehne aus dem Polster, um die Grenze zu markieren.
Das Fest fand im Russischen Hof statt und war so organisiert wie in allen Jahren, seitdem Papa darauf bestand, mit seiner gesamten Familie teilzunehmen: kleine Tische, in der Mitte eine Tanzfläche, eine Zweimanncombo mit Akkordeon und Schlagzeug, die mehr schlecht als recht allgemein Bekanntes spielten und dazwischen peinliche Witzchen machten und die Gäste zum Mitklatschen und Refrainsingen aufforderten. An der Stirnseite ein Transparent, Pfeiffer Gartengeräte wünscht allen Mitarbeitern ein frohes Fest. Angenehm neutral, das hätte man notfalls auch für Ostern verwenden können. Das Transparent war an den Ecken schon ein bisschen ausgefranst, seit Jahren war es in Gebrauch.
Davor ein langer Tisch mit den üblichen Verdächtigen, Abgesandte des Vorstands der gesamten XP-Holding, in der neben Pfeiffer noch mindestens zehn weitere Firmen zusammengefasst waren. Der ominöse neue Chef war sicher der kleine Dicke, der sich die schwarzen Haare quer über die Glatze gelegt hatte und sein Smokingjackett nicht mehr zuknöpfen konnte.
Ehefrauen im besten Cocktailkleid, wenige lustlose Kinder um die zwanzig, die Damen aus dem Schreibpool in unterschiedlich stark aufgetakeltem Zustand, jüngere Sachbearbeiter mit Jagdfieber im Blick. Vor denen hatte ich wenig Angst, die kannte ich schon von den letzten Jahren, und da war ich bösartig genug gewesen.
Wozu schleifte Papa mich immer mit? Ich fiel ihm ja doch nur in den Rücken und benahm mich mit Freuden daneben. Vielleicht ging ich nur wegen Mama mit, die man nicht aufregen sollte, damit sie nicht keuchte und bläuliche Lippen bekam. Wegen Tobi tat ich es bestimmt nicht.
Papa fand den für uns reservierten Tisch, rückte uns Damen mit großer Geste die Stühle zurecht und bestellte eine Flasche Rotwein. Ich bat um Mineralwasser, fest entschlossen, heute die perfekte Zicke zu geben. Garantiert würde das ein furchtbarer Abend! Tobi steckte sich bereits eine Zigarette an, lehnte sich zurück und musterte die herumlaufenden Sekretärinnen und Sachbearbeiterinnen. Die hübschesten starrte er richtig widerlich an, als malte er sich ihre nackten Körper aus.
„Hast du Viagra eingeworfen?“, flüsterte ich ihm angeekelt zu. „Du sabberst ja schon, du Lustmolch.“
„Viagra hab ich nicht nötig. Weiß Gott nicht!“
„Gott wird das egal sein.“
„Nur kein Neid. Bloß weil du nie einen findest, der´s dir richtig besorgt, muss ich ja wohl nicht auf allen Spaß verzichten“, zischte er zurück.
„Streitet euch nicht, Kinder“, mahnte Mama milde und hielt eine Hand auf ihr Herz gepresst.
„Fühlst du dich nicht gut?“, fragte ich sofort alarmiert. Eigentlich waren solche Veranstaltungen nicht gut für sie, aber sie liebte es doch so, zu zeigen, dass sie noch jung und schön war. Schön war sie wirklich, sie hatte so feine Gesichtszüge und ungewöhnlich große, hellblaue Augen. Die Falten drumherum waren mit Ende fünfzig ja wohl keine Schande!
Leider hatten wir beide ihr Gesicht nicht geerbt, und ihre Augen auch nicht; Tobias und ich hatten beide Papas härtere Züge und seine normalgroßen, eher grünlichen Augen. Immerhin hatte ich nicht so feiste Bäckchen wie Tobi – er aß und trank eindeutig zuviel. Und er rauchte zuviel, das war schon die zweite! Der Qualm war sicher auch nichts für Mamas Kreislauf.
Mama wehrte matt, aber anmutig ab. „Lass nur, Kind, es geht mir gut. Ich habe mich doch so auf den heutigen Abend gefreut.“
„Warum eigentlich?“, fragte ich etwas bockig zurück, „Das ist doch immer das Gleiche, schlechter Wein, schlechte Musik, schräges Publikum.“
„Schräg?“ Papa setzte sich steif auf. „Was soll das heißen, Nathalie? Das sind meine geschätzten Kollegen und die Herren vom Aufsichtsrat der Holding, und irgendwo muss auch dieser neue Mann sein, der jetzt die Aktienmehrheit – der dahinten wahrscheinlich, der schwarzhaarige Kleine. Den kenne ich noch nicht. Das sind alles sehr korrekte Herren, also pass gefälligst auf, was du sagst! Du lebst nicht schlecht von der Firma Pfeiffer!"
Gar nicht wahr, dachte ich rebellisch, ich wohnte doch bloß noch zu Hause, aber ich verdiente mein Geld selbst und kümmerte mich obendrein um den Haushalt. Wenn ich auszöge, würde Papa gar nichts sparen.
Ich zog es aber vor, nicht zu antworten, weil sich sonst wieder ein endloser Streit entspinnen würde. Klar war der Abend langweilig, aber durch Papas Gezanke würde er auch nicht viel spannender. Eine der Mumien aus dem Aufsichtsrat erklärte das Fest für eröffnet, nachdem er eine mäßig komische, aber dankenswerterweise kurze Rede gehalten hatte.
Sobald sich die Massen am Buffet zu drängen begannen, stand ich auf und schlenderte durch die Räume, um sowohl dem plastikartigen Essen, das Papa wieder anschleppen würde, als auch den bald zu erwartenden dickbäuchigen und kahlköpfigen Tänzern zu entgehen. Fast eine Stunde lang saß ich in einem Vorraum auf einem kalten Marmorfensterbrett, halb von einem riesigen Ficus verdeckt, und hoffte, dass mich niemand nerven würde.
Schließlich rutschte ich doch, gründlich durchgekühlt, wieder vom Fensterbrett und kehrte in den Saal zurück. Ein, zwei Runden, dann konnte ich mich für längere Zeit aufs Klo zurückziehen... Die Menge tanzte . Den Schnee-Schneewalzer, -walzer tanzen wir ... Ausgerechnet! Ich nahm mir ein Glas Wasser, sah mich verächtlich um und verzog mich in eine Nische, wo ich sehen, aber kaum gesehen werden konnte. Dort präparierte ich meine Zigarettenspitze, zündete die Zigarette an, verkniff mir den Husten und hielt die Spitze dann dekorativ in der Hand.
Grässliches Volk, wie immer. Papa redete eifrig auf Mama ein. Tobi tanzte mit einer Rothaarigen in einem silbernen Kleid. Ob sie wusste, wie dünn und entlarvend der Stoff war? Ich jedenfalls sah von hinten, dass sie darunter nur einen String trug, und dass das Gummi dieses Strings genau über ihrem Hintern mit einem Zierblümchen besetzt war, das sich sehr aufdringlich durch den Stretchstoff drückte. Wenig elegant, es sah fast etwas nuttig aus. Dann hätte sie ja zu Tobi gepasst, aber mir tat sie doch Leid, sicher hatte sie sich einfach nicht von hinten betrachtet. Tobi fummelte, und sie ließ es sich gefallen, wirkte aber nicht unbedingt glücklich.
Daneben der neue Obermotz mit den schwarzen quer gelegten Strähnen. Seine Tänzerin war einen guten Kopf größer als er und zog ein Gesicht, als könne sie nur beten, dass sie hier niemand von ihren Bekannten erwischte. Konnte ich gut verstehen... Und Papa würde sicher finden, die Höflichkeit gebiete es, mit diesem verschwitzten Zwerg zu tanzen! Höflichkeit! Um Papas Job zu retten? So toll war er als Geschäftsführer von Pfeiffer wohl auch nicht, wenn er das nötig hatte! Er war ohnehin bald reif für die Rente, wenn er sich auch absolut nicht so benahm.
Gelangweilt ließ ich meinen Blick weiter über die herumschiebende Menge schweifen. Alle uninteressant. Und die Zigarette schmeckte scheußlich. Immerhin war der Glühweintopf im Moment verlassen, also stellte ich mich so davor, dass ich ihn gegen die Leute abschirmte, praktizierte das Fläschchen aus der Tasche und leerte es hinein. Sollte hier wirklich jemand keinen Alkohol trinken dürfen, musste er von diesem Zeug ohnehin die Finger lassen, und die anderen würden sich umso schneller als die Idioten outen, die sie auch waren. Als die Flasche wieder sicher in meiner Tasche steckte, musterte ich noch einen Moment lang das Buffet, entschied mich schließlich für ein Scheibchen Baguette und knabberte, nun wieder mit dem Gesicht zum Publikum, daran herum.
Mein Blick fiel auf einen Mann, der mich beobachtete. Ich starrte zurück. Unhöflich, ja, aber ich hatte noch nie solche Augen gesehen. Auf die Distanz wirkten sie, als hätte er keine Iris, so hell waren sie. Vielleicht ein Blinder? Nein, er sah mich, das war klar. Nicht hässlich, vor allem im Vergleich zum sonstigen Angebot, groß, schlank, gut gekleidet. Das war an einem solchen Abend zwar nichts Weltbewegendes, aber sein Smoking saß wenigstens. Dunkelblonde Haare, wie meine, gut geschnitten. Kein Bart; warum manche Kerle es für nötig hielten, eine Bürste im Gesicht spazieren zu tragen, hatte ich noch nie verstanden. Um zu zeigen, dass sie es konnten? Dass sie über Testosteron verfügten? Das merkte man auch schon am schlechten Benehmen.
Читать дальше