Egal wie gut es die Eltern mit ihrer Überwachung meinen, für Susanne Häring bietet sie mehr Gefahren als Sicherheiten. „Niemand weiß, was mit den Daten passiert, die über diese Apps gesammelt werden“, sagt die Expertin. Denn sobald Hacker in deren Besitz kommen, verwandeln sich die eigentlichen Helfer der Eltern zu Verbündeten von Kriminellen. Darüber hinaus würden sich die übersteigerten Ängste von Eltern auf ihren Nachwuchs übertragen. „Stress und Angst wirken sich auf die Psyche aus. Oft spüren Kinder sofort, wenn ihre Eltern unsicher sind“, sagt Susanne Häring.
Statt ihren Nachwuchs vor der Welt zu ängstigen, sollten Eltern besser dessen Stärken fördern und ihn gezielt aufklären. Das eigene Kind loszulassen, sei nicht einfach. Dennoch rät die Expertin, dessen Selbstständigkeit Schritt für Schritt zu fördern. Wer trotzdem Angst um sein Kind habe, sollte diesem statt eines GPS-Trackers besser einen Selbstverteidigungskurs sponsern. Denn Studien der Vergangenheit zeigten: Menschen, denen die Angst im Nacken sitzt, werden viel eher angegriffen.
Der alte Spruch von Revolutionär, Politiker und Kontrollfreak Lenin hat viel Wahres. Doch vielleicht sollten unsichere Eltern ihn um einen Zusatz erweitern: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, und ein gesundes Bauchgefühl ist am besten.
1a. Familie sehen: lokale Geschichten
Foto: Ann-Christin Fischer
Von Ann-Christin Fischer
Dartpfeil landete im Auge
Ein wunderschönes Hotel in Djerba (Tunesien), ein riesiger Pool und ein Animateur, der die Kleinen unterhält und mit ihnen spielt. Hört sich nach einer Traumreise an, ist es auch – bis zum 25. Oktober 1998. Dann passiert das Unglück. Rückblick: Lisa Büring ist damals acht Jahre alt und erinnert sich: „Am Rande des Pools wurde vom Animationsteam ein Dartspiel vorbereitet. Ich war bei so etwas immer sofort dabei und habe mich dazugestellt und mir das Ganze angeschaut.“ Ihre Mama Renate Büring und Stiefvater Andreas Langanke liegen am Pool, Stiefbruder Tobias ist bei Lisa in der Nähe.
Die Dartscheibe ist in Richtung Pool aufgebaut, um die Scheibe herum steht eine Menschenmenge. Lisa Büring mittendrin. „Ich stand rechts, das weiß ich noch ganz genau.“
Und dann passiert etwas, was heutzutage wirklich unvorstellbar ist. Der Dame, die den Dartpfeil werfen soll, werden die Augen verbunden. Noch dazu soll sie sich im Kreis drehen. Wenn der Animateur „Jetzt“ ruft, soll sie werfen. „Jetzt!“ , sie wirft, und Bruchteile später steckt der Dartpfeil in Lisas Auge. „Sie hat mich getroffen, und ich habe reflexartig den Pfeil aus dem Auge gezogen“, berichtet die 25-Jährige.
„Das war totaler Blödsinn, dieses Spiel“, sagt Renate Büring im Nachhinein. Sie bekommt mit, dass rund um den Animateur viel Trubel herrscht und hört dann ihre Tochter schreien.
Sofort steigt die Familie mit dem Animateur in ein Taxi und fährt zu einem Arzt. Lisa sieht zu diesem Zeitpunkt alles wie durch ein Milchglas, nur dass es nicht weiß, sondern gelb ist. Beim ersten Arzt ist es „wie auf einem Schlachthof“, erinnert sich Renate Büring. Er fragte Lisa: „Siehst du noch etwas?“ Da sie seine Finger schemenhaft erkennen konnte, schickt er sie zurück ins Hotel, alles sei gut.
Mutter bleibt bei der Tochter
Nichts da, der Trupp fährt in eine Privatklinik, der Arzt sei sehr erfahren, für tunesische Verhältnisse sei hier alles sehr modern. Sofort wird Lisa Büring genäht, die ganze Zeit ist ihre Mutter bei ihr, auch nachts: „An viele Dinge kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß aber noch, dass Mama immer bei mir war und ich das beruhigend fand“, sagt sie und blickt ihre Mama liebevoll an. Der Rest der Familie bleibt im Hotel, aber an Urlaub war nicht mehr zu denken. Nur noch: Wann geht der nächste Flug nach Deutschland?
Renate Büring steht ihrer Tochter unermüdlich bei, will, dass sofort die Schuldfrage geklärt wird. Das Hotel zahlte das Krankenhaus, die Dame, die geworfen hat, nimmt alle Schuld auf sich und entschuldigt sich mehrere Male. Bis heute muss ihre Versicherung für alle Folgeschäden aufkommen. „Sie hatte ein sehr schlechtes Gewissen“, weiß Renate Büring und sagt: „Die Entschuldigung haben wir natürlich angenommen.“ In Tunesien kämpft sie wie eine Löwin für ihr Kind. Deutsch können viele nicht, also wurde alles mit Französisch und Englisch geregelt.
Nach drei Tagen im Krankenhaus und unzähligen Antibiotika, Spritzen und Tropfen ist es so weit: Die vier fliegen zurück. In Meppen lobt Augenarzt Dr. Robert D. Slingerland die gute Arbeit der tunesischen Ärzte. In Ahaus bekommt die damals kleine Lisa ein paar Monate später eine künstliche Linse, ihre kann nicht mehr gerettet werden, sie ist durchgestochen und trüb. Heute hat sie auf dem Auge nur noch 30 Prozent Sehkraft. Sie erklärt: „Ich sehe alles verpixelt, habe mich aber daran gewöhnt.“ Wer ganz genau hinschaut, erkennt, dass die Linse etwas anders aussieht als ihr gesundes Auge.
Heute meidet die junge Frau Dartpfeile. „Früher habe gerne auf der Kirmes mit Dartpfeilen auf Ballons geworfen, aber nach dem Vorfall habe ich nie wieder einen angefasst.“ Der Wunsch, ihre Augen zu verbessern, ist immer da. Die Hoffnung, dass sie irgendwann über die 30 Prozent Sehkraft hinauskommt, auch.
Foto: Ulrike Havermeyer
Von Ulrike Havermeyer
Die Guidos: eine ziemlich sichtbare Familie
Wir haben der – inzwischen siebenköpfigen – Familie Guido einen Besuch abgestattet und festgestellt: erfreulich normal.
Ein blonder Wuschelkopf. Ein offenes Lächeln. Wache blaue Augen. Tim ist sichtbar. Überregionale Zeitungen und Magazine berichten über ihn. Auch ein Fernsehteam hat den Alltag der Familie Guido aus Quakenbrück schon dokumentiert. Dass der Blick der Öffentlichkeit ihr Leben immer wieder streifen würde, war nicht beabsichtigt – aber wohl unvermeidbar. Denn als Simone und Bernhard Guido 1998 ihr erstes Pflegekind aufnahmen, kam in Gestalt des mehrfach behinderten „Oldenburger Babys“ nicht nur ein kleiner Junge mit einem schweren Schicksal in ihr Haus, sondern auch ein hohes Maß an allgemeiner Anteilnahme und damit verbunden ein landesweites Medieninteresse.
Tims Lebensfreude prägt den Alltag
Tim, das Kind mit dem Downsyndrom und einer Reihe schwerer Organschäden, war für viele nur „der Junge, der seine eigene Abtreibung überlebt hat“. Dessen dramatische und eigentlich gar nicht gewollte Geburt für eine Diskussion über Spätabtreibung und die Einstellung der Gesellschaft zu einem Leben mit Behinderungen auslöste. Für die Guidos dagegen ist Tim ihr nicht immer ganz leicht zu handhabender Pflegesohn, in den sie sich vor 18 Jahren „auf den ersten Blick verliebt haben“, wie sie betonen. Und dessen unbestreitbare Lebensfreude die Sicht der Familie auf den gemeinsamen Alltag trotz mancher Schwierigkeiten doch mit prägt.
Drei sattelfeste Down-Kinder
Ein Spätsommertag in Quakenbrück: Während Marco (23 Jahre), der älteste der beiden leiblichen Söhne von Simone und Bernhard Guido, das gute Wetter und die eigenen Semesterferien nutzt, um seinen Eltern einen Besuch abzustatten – und dabei auch gleich noch den Gartenzaun zu streichen, bereiten sich seine drei Pflegegeschwister Tim (18), Melissa (15) und Naomi (11) auf ihre wöchentliche Reitstunde vor. Als Mutter Simone den Familien-Van auf den Hof von Albrecht Lübke lenkt, hat der Reitlehrer seine beiden Therapiepferde Oskar und Luna schon gesattelt. Seit mehr als 16 Jahren arbeitet der Mann aus Wohld mit der Familie Guido zusammen: 1999 hat er den damals zweijährigen Tim kennengelernt. 2004 kam Melissa dazu und im vergangenen September Naomi. Zwischen Lübke und den Guidos ist im Laufe der Jahre mehr als bloß eine Bekanntschaft gewachsen.
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