Von Thomas Pertz
Eine Familie in Lingen versteht sich blind
Seine Eltern kann Hendrik Lonnemann nicht sehen, auch wenn sie direkt vor ihm sitzen. Seine Schwester Wiebke sieht er ebenfalls nicht. Der 24-Jährige ist von Geburt an blind. Hadert der junge Mann mit dieser Situation, die unabänderlich ist? Die Antwort: Hendrik studiert im achten Semester Jura in Marburg. Die Familie wohnt im Lingener Ortsteil Baccum. Alle vier zusammen, wie an diesem Nachmittag im Esszimmer, sind sie nur selten. Das hat natürlich mit dem Studienort von Hendrik in Hessen zu tun, aber eben auch mit seinem Handicap. Das Leben weitgehend selbstständig zu meistern – dieser Anspruch an sich selbst zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben des jungen Mannes. Es mag deshalb nur auf den ersten Blick paradox erscheinen, dass seine Blindheit Hendrik dennoch schnell zu einem Menschen mit Orientierung hat heranwachsen lassen. Schneller als dies bei so manch anderen der Fall ist, die zwar sehenden Auges, aber ohne große Richtung durch den Alltag schreiten. Am anderen Ende des roten Fadens steht die Familie, die Halt gibt und die Verbindung hält, auch über viele Kilometer hinweg.
Fast die Hälfte seines Lebens hat der junge Mann außerhalb von Baccum verbracht. Als Grundschüler lebte er zwei Jahre bei einer Pastorenfamilie in Bremen, um dort das Förderzentrum für Blinde und Sehbehinderte zu besuchen. Ab der dritten bis zur siebten Klasse machte Hendrik die Tour von Baccum nach Bremen täglich: „Halb 6 raus, kurz vor 8 Uhr in der Schule, gegen 15.30 Uhr wieder zurück nach Hause“, beschreibt der junge Mann seinen „Arbeitsalltag“ als Kind.
Wechsel nach Marburg
Dann ab der siebten Klasse der Wechsel nach Marburg. An der Carl-Strehl-Schule macht der junge Mann sein Abitur. Die Bildungseinrichtung ist eine staatlich anerkannte private Förderschule mit dem Schwerpunkt „Sehen“. Sie ist das einzige Gymnasium für blinde und sehbehinderte Schülerinnen und Schüler im deutschsprachigen Raum.
Der Baccumer hat während diese Zeit weit weg von zu Hause gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen. Oft haben ihn seine Eltern nach Marburg gefahren und an Wochenenden nach Baccum abgeholt. Inzwischen fährt er die Strecke selbstständig mit dem Zug.
Hendrik spricht von „den zwei Leben“, die er führt: Das Studentenleben in Marburg und die Zeit zu Hause mit seiner Familie. Dort ist er natürlich ein Teil der Lonnemanns, nicht weniger, aber auch nicht mehr. „Wir haben unsere Kinder immer gleich erzogen, und Hendrik räumt die Spülmaschine hier genauso aus wie Wiebke“, schmunzelt Mutter Karin. Es sei schön, eine Familie im Rücken zu haben, die immer zu einem stehe, betont der junge Mann. „Da hab ich viel Glück gehabt.“
Stolze Eltern
Und im Zug nach Marburg oder von dort aus nach Lingen zurück? Das funktioniere sehr gut, und wenn er doch mal Unterstützung benötige, seien die Leute sehr hilfsbereit, sagt Hendrik. Er hat es übrigens lieber, wenn er direkt auf seine Blindheit angesprochen und nicht darüber hinweggegangen wird. Als schlimm empfindet er es, wenn in seinem Beisein über ihn in der dritten Person gesprochen wird. „Möchte er denn auch eine Fanta?“, fragte mal jemand, während Hendrik daneben saß.
Unterschwellig kommt hier eine Reduzierung des jungen Mannes auf seine Behinderung zum Ausdruck, ein Gefühl der Herabsetzung, das ihn auch während seines Jura-Studiums in Marburg eine ganze Zeit lang begleitet hat. Hendrik war unter 550 Studienanfängern der einzige Blinde. Und das in einem Studienfach, das ohnehin von „Einzelkämpfertum“ geprägt sei, berichtet er. „Hast du wirklich Abitur?“ und andere solcher Fragen bekam er zu hören.
Hendrik lernte schließlich zwei sehbehinderte Jura-Studenten kennen, die zwei, drei Semester höher waren. Mit viel Fleiß schaffte er es, auf ihr Leistungsniveau zu kommen, sodass sie nun eine Studiengruppe in Marburg bilden.
Ein Jurastudium ist schwer und für jemanden, der nicht sehen kann, noch schwerer. Daran ändern auch Fachliteratur in Blindenschrift und digitaler Form, ein spezielles Sprachprogramm für das Erfassen von Texten am Computer und eine Vorlesekraft nichts, die Hendrik stundenweise zur Verfügung steht. Gleichwohl verläuft sein Studium absolut nach Plan. Im September 2016 plant er das 1. Staatsexamen.
„Ja“, sagen und nicken Karin und Martin Lonnemann auf die Frage, ob sie stolz auf Hendrik sind. Und ebenso stolz sind sie auf Tochter Wiebke, die gerade das Abitur gemacht hat und nun für einen Monat ein Praktikum im Bundestag in Berlin macht. Die Mutter begleitet die Tochter die ersten Tage in der Hauptstadt. Die Lonnemanns sind ein eingespieltes Familienteam. Da kann sich einer auf den anderen – blind – verlassen.
Foto: David Ebener
Von Malte Schlaack
Vater Michael Karsch: Während seiner aktiven Karriere guter Mittelstreckenläufer mit den Paradedisziplinen 800 und 1500 Meter, später auch Marathon. Heute Trainer der Laufgruppe beim Osnabrücker TB. Mutter Jutta Karsch: Über die Langstrecke im Bundeskader und siebenfache Deutsche Meisterin über diverse Strecken und läuft heute „was die Knochen noch hergeben“. Die Söhne Marvin und Dustin Karsch: große Talente über die Mittelstrecken mit Kontakt zur nationalen Spitze.
Kein Wunder also, dass sich die Eltern über das Laufen beim OTB kennengelernt haben und ihre Söhne schon früh mit dem Sport in Kontakt kamen. „Die ersten Jahre haben wir das Training oft um den Sandkasten herum gelegt“, sagt Jutta Karsch, fügt aber auch gleich an: „Das Interesse war erst zäh.“ Marvin und Dustin hatten zunächst andere Interessen, spielten Fußball und probierten andere Sportarten aus. Im Teenageralter entdeckten die beiden dann aber die Leidenschaft ihrer Eltern auch für sich.
Dabei war zu Beginn gar nicht abzusehen, dass die Karsch-Söhne auch leistungsmäßig ihren Eltern nacheifern werden. „Am Anfang waren wir nur Statisten in Osnabrück, jetzt sind wir in Deutschland vorne mit dabei“, sagt Marvin, der sein persönliches Highlight im Juli in Nürnberg hatte. Über 3000 m Hindernis lief er bei der Deutschen Meisterschaft auf einen hervorragenden achten Platz. Sein Zwillingsbruder Dustin hat ebenfalls eine sehr erfolgreiche Saison hinter sich, wobei ein Höhepunkt noch auf ihn wartet. In Köln wird er Anfang Oktober einen Halbmarathon laufen. „Wir sind beide in dieser Saison auf allen unseren Strecken neue Bestzeit gelaufen“, betont der 22-Jährige.
Dann ist vielleicht auch wieder etwas in Gefahr, was in der Familie Karsch einen beträchtlichen Teil der Motivation der Söhne ausmacht: die Hausrekorde. „Ich habe noch die 800 Meter, alles andere ist pulverisiert“, sagt Vater Michael lachend. Er sorgt aber auch selbst dafür, dass die Rekorde reihenweise purzeln. Karsch senior leitet die Laufgruppe des OTB, in der neben seinen beiden Jungs noch Läufer aus ganz Niedersachsen trainieren. Mit Lothar Pöhlitz ist außerdem noch ein erfahrener Berater dabei, der einst schon als Bundestrainer mit Mutter Jutta gearbeitet hat.
„Es ist ja nicht unbedingt normal, dass man Kinder hat, die den gleichen Spleen haben, den man auch hat. Da haben wir schon Riesenglück gehabt“, sagt der Vater stolz. Entsprechend ist der Tagesablauf im Hause Karsch auch ziemlich auf das Laufen abgestimmt. „Wir stehen relativ zeitig auf, allein schon um sicherzustellen, dass wir den Abend für Trainingsmaßnahmen freihalten“, sagt Michael. Familie Karsch lebt zusammen unter einem Dach und neben bis zu zehn Einheiten pro Woche stehen am Wochenende Wettkämpfe an. „Abends sitzen wir oft noch eine Stunde zusammen auf dem Sofa, reden übers Training und bereiten die nächste Trainingswoche vor“, berichtet Marvin. Ein großes Ziel eint dabei die Brüder und damit auch die Eltern: „Ein Traum ist es, einmal im Nationaltrikot auflaufen zu dürfen“, betont Dustin.
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