Noch drei vor ihm. Ein Mädchen. Jung. Vielleicht vierzehn. Sie springt sofort. Der nächste folgt ihr ohne Zögern, als hätte er Gefallen an ihr gefunden und wollte sie auf der anderen Seiten einholen.
Noch eine vor Li. Eine Schönheit. Sie dreht sich um. Augen blicken in Augen. Unerwartet küsst sie Li lange und leidenschaftlich, macht einen Schritt rückwärts und ist dann fort. Eine Stimme von hinten.
„Wollen Sie zuerst, Li? Oder gewähren sie mir den Vortritt?“
Ein süßer Geschmack liegt auf seinen Lippen. Er will ihn noch auskosten.
„Nach Ihnen, Elijah.“
Der Indianer legt ihm im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter und sagt: „Es war recht nett, gelebt zu haben, doch nicht des Lebens wert.“ Dann lächelt er und ist verschwunden. Natürlich muss er etwas Seltsames, etwas Philosophisches sagen, bevor er geht. Typisch Elijah, Bekanntschaft einer Stunde und doch schon alter Freund.
Jetzt ist Li an der Reihe. Elijah ist tot. Die Schönheit ist tot. Das Mädchen ist tot. Alle sind sie tot. Alle sind sie fort. Li folgt. Er hat keine Angst.
Ein Schritt.
Stille.
Dunkelheit.
Donner.
Und ewiger traumloser Schlaf.
IV
Eva schließt die Augen und weiß Bescheid. Vor einer Minute hat sie rein gar nichts von Physik verstanden. Nun kennt sie alles, was darüber bekannt ist. Ohne es jemals gelernt zu haben, ohne jemals ein Buch zu diesem Thema gelesen zu haben, ist sie nun informiert über alle Fragen und Ergebnisse dieser Wissenschaft. Ohne lange zu überlegen kann sie jede noch so komplizierte Formel auf ein Blatt Papier schreiben und erklären, was die Zeichen bedeuten. Wofür andere viele Jahre lang studiert haben, ist ihr innerhalb von Sekunden geschenkt worden. Aber dieser Vorgang ist inzwischen längst zur Routine geworden.
Eine neue Art der neuronalen Schnittstelle macht es möglich. Bis zu ihrer Entwicklung ist es lediglich machbar gewesen die Sinneseindrücke eines Menschen zu manipulieren und ihn so zum Beispiel in virtuelle Welten zu versetzen. Nun kann man direkt auf die Erinnerung zugreifen und somit jedes beliebige Wissen importieren. Das war das Ende einer uralten Tradition. Endlich hat der Lehrer – ob Mensch oder Maschine – ausgedient.
Eva ist neun Jahre alt und spricht fließend drei lebendige und zwölf tote Fremdsprachen. Wenn sie etwas schreibt, so findet man niemals einen Rechtschreibfehler. Nie wird ein Wort in falscher Bedeutung verwendet. Ihre Sprache ist klar, präzise und reich an Fachausdrücken. Eva artikuliert meisterhaft.
Ein jedes Kind, das heute geboren wird, bekommt schon bald nach der Geburt eine halborganische neuronale Schnittstelle in den Hinterkopf implantiert. Es ist dies eines seiner wichtigsten Organe. Schon zu Beginn enthält dieses Implantat das Grundwissen für ein gelingendes Leben. Nach langen Diskussionen hat man sich auf folgende Basisinhalte geeinigt: Ein Neugeborenes verfügt nach Implantation über den Gesamtwortschatz der drei wichtigsten Sprachen, mitsamt den präzisen Definitionen und allen grammatikalischen Regeln. Außerdem beinhaltet der Chip die gesamte bekannte Geschichte des Kosmos und des Menschen. Soziale Regeln und die Strukturen der modernen Gesellschaft sind natürlich auch enthalten.
Seit sie denken kann, weiß Eva schon über alle Höhen und Tiefen Bescheid, die der Mensch im Laufe seiner bewegten Geschichte durchwandert hat. Es dauerte, bis sich ihr Gehirn vollständig entwickeln konnte und in der Lage war, den darin enthaltenen Reichtum zu erfassen. Doch dann ging es sehr schnell. In Windeseile lernte Eva das Sprechen. Mit vier Jahren schon verstand sie das Elend des Krieges und den Zauber der Wissenschaft.
Durch das Ende des Lernens wurde das Ende der Arbeit erst vollkommen. Lernen ist schließlich auch nur Arbeit. In der Vergangenheit ist die Schule der erste Arbeitsplatz des Menschen gewesen. Von Anfang bis Ende des Lebens hat der Mensch gelernt, hat Jahre bis Jahrzehnte seiner Zeit damit verbracht, sich erst einmal all jenes Wissen anzueignen, das er für seine Lebenslaufbahn brauchen würde. Das alles ist nun vorbei.
Eva ist nie Kind gewesen. Nie hat sie die Unschuld der Unwissenheit gekannt, welche wesentlich ist für eine echte Kindheit. Mit all den vielen Daten im Kopf hat ihr das Spiel nie richtige Unterhaltung bieten können. Es gibt Kampagnen, welche fordern, die Menschen erst später im Leben mit dem Basiswissen zu versorgen. Andere meinen, dies wäre nur eine Vergeudung von Ressourcen. Denn desto früher der Mensch alles weiß, was er braucht, umso weiter kann er in seinem Denken gelangen. Außerdem macht eine frühe Versorgung mit Wissen den Prozess der Erziehung, welcher schließlich auch Arbeit ist, um ein Vieles leichter und bringt so große Entlastung für die Eltern. Es hat sich nicht gezeigt, dass das Fehlen einer klassischen Kindheit dem Menschen objektiv irgendwelche Nachteile bringen würde. Eine direkte Verbindung zwischen früher Wissensimplantation und dem Anstieg der Selbstmordrate kann nicht festgestellt werden.
Als sie sieben Jahre alt wurde, hat Eva den Wunsch geäußert alles über das Fliegen wissen zu wollen. Innerhalb von Minuten wusste sie alles. Nach einigen anderen Gebieten hat sie nun auch alles über die Physik gelernt. Es ist ganz leicht. Jedes beliebige Fachgebiet kann schnell beschafft und importiert werden. Natürlich gibt es auch Menschen, die einfach alles wissen wollen.
Es ist eine Zeit angebrochen, in welcher es nach vielen Jahrhunderten endlich wieder so etwas wie Universalgelehrte gibt. Die Geschichte zeigt, dass wohl irgendwann gegen Ende des Mittelalters der Zeitpunkt erreicht wurde, da der gesamte Wissensschatz der Menschheit so groß geworden war, dass ein Mensch allein sich unmöglich all dieses Wissen aneignen konnte. Es kam daher zu vielen Spezialisierungen. Naturphilosophen spalteten sich auf in Physiker, Mathematiker, Biologen, Chemiker und andere. Jene spalteten sich weiter auf. All diese Gebiete wurden ihrerseits bald so umfassend, dass ein Mensch allein sie unmöglich überschauen konnte. Es kam schließlich so weit, dass die meisten Forscher durch intensives Lernen nur so weit gelangten, eine einzige kleine Säule des riesigen Palastes der Wissenschaft zu kennen. Auf diese Art und Weise wurden viele neue Einsichten erst sehr spät oder gar nicht gewonnen, da man weit mehr sehen kann, wenn man den Wald kennt, anstatt nur einzelne Bäume. Und der Wald war längst unsichtbar.
Mit der neuronalen Schnittstelle ist dieses Problem gelöst worden. Es gibt wieder Universalgelehrte, solche, die über alles bekannte Wissen verfügen und es in geschickter Kombination dazu nutzen können Neues zu finden.
Beseitigt wurde damit auch jene Ungerechtigkeit, dass ein Talent über alle anderen Talente bestimmt. Wenn man zu früheren Zeiten zum Beispiel ein guter Physiker gewesen wäre, aber keine Begabung für das Lernen hatte, so wurde man nicht Physiker. Viele konnten ihre Talente nicht nutzen, da ihnen das Talent fürs Lernen fehlte. Auch das ist heute anders.
Eva weiß nicht, was sie in ihrem Leben tun möchte. Es gibt auch nicht viel zu tun. Obwohl die neuronale Schnittstelle viele Möglichkeiten bietet, werden diese nicht wahrgenommen. In einer Welt, in welcher maschinelle Einheiten den Menschen alle Sorgen zu nehmen versuchen, fehlt der Ehrgeiz, fehlt der Ansporn neue Theorien zu entwickeln. Wozu denn?
Als Eva zehn Jahre alt wird, muss sie schließlich erkennen, dass sich die Welt nicht mehr für das Wissen interessiert. Es gibt keine Physiker mehr. Nirgendwo wird noch geforscht. Alles ist Zeitvertreib geworden. Ohne die neuronale Schnittstelle wäre ihr diese Erkenntnis wohl erst Jahre später gekommen. Aber zum Glück gibt es ja noch Geschichten.
Schon immer haben sich die Menschen Geschichten erzählt. Sie haben gewaltige Epen geschrieben und sich auf der Bühne und im Film die faszinierendsten Leben zurechtgelegt. Als Eva diese Welt der Fiktion entdeckt, ist sie begeistert. In ihrem Kopf befindet sich nur die eine, die wahre Geschichte. Bisher hat sie nicht geahnt, dass es so viel mehr davon gibt. Alle will sie kennen. Sie will mit jedem Helden kämpfen, jeden Drachen töten, jede Liebe lieben und mit jedem Entdecker in die Ferne reisen. Doch das Lesen geht ihr viel zu langsam. Auch Filme brauchen zu viel Zeit. Eva will die Geschichte gleich und so intensiv wie möglich fühlen. Die neuronale Schnittstelle macht es möglich.
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