Für Samantha liegt diese Wende bereits weit in der Vergangenheit. Sie hat sich sehr schnell ereignet. Leider nicht immer friedlich, denn die sozialen Umwälzungen waren groß. Aber schließlich hat sich die neue Gesellschaftsstruktur fast überall durchgesetzt. Kein Schweiß mehr. Es ist schwer geworden, die Menschen der Vergangenheit zu verstehen. Besonders Marx. Es gibt keine Arbeiter und Bauern mehr. Kein Mensch pflügt mehr Felder. Doch auch sonst tut er nicht viel. Er ist frei.
Samantha stellt sich im Geiste all die heute oft archaisch klingenden Tätigkeiten vor, mit denen ihre Vorfahren einst ihr tägliches Brot verdienten. Das Errichten von Gebäuden, das Stehen an Fließbändern, Feldarbeit, das Sortieren von Büchern, Transport, das Verkaufen von Waren in Geschäften und Supermärkten, die es gab, bevor die Zubringerrohre in Betrieb gingen – all das und noch viel mehr ist längst vorbei. Der Mensch kann endlich ruhen. Die Einheiten haben ihn abgelöst. Zuerst ergänzten sie ihn, dann ersetzten sie ihn. Und sie machen ihre Sache tausendmal besser als er in all seinen Fehlern. Wer würde sich heute noch getrauen, sich bei Krankheit von einem menschlichen Arzt operieren zu lassen? Maschinenhände sind tausendmal sicherer. Wer würde sich schon zumuten, etwas zu essen, das von Menschenhand zubereitet ist? Kocheinheiten sind weitaus besser und sicherer.
Erst spät hat man erkannt, dass diese Entwicklung kommen musste. Dabei war es doch so einfach vorherzusehen. Die Menschen am Anfang des Jahrtausends hätten sich nur eine Frage stellen sollen. Welche Tätigkeit, welcher Beruf, welche Arbeit kann denn nicht genauso gut oder gar besser von Maschinen und künstlichen Intelligenzen verrichtet werden? Etwa das Steuern von Fahrzeugen? Heutzutage werden in weiten Teilen der Welt sämtliche Automobile, Flugzeuge und andere Fortbewegungsmittel von Einheiten gesteuert. Die Fortbewegungsmittel sind daher selbst nichts anderes als Einheiten. Seit ihrer Einführung gibt es kaum Unfälle. Maschinen sind weit bessere Fahrer, weit bessere Köche und Hirnchirurgen. Maschinen können Menschen pflegen, können Straßen bauen und Lager verwalten. Nur wenig bleibt für den Menschen zu tun. Nur wenige Menschen tun noch etwas.
Samantha ist eine davon. Immer noch lehnt sie an der Brüstung und beobachtet den Fortschritt an der nun fast fertigen Kraneinheit. Sie ist fast sechzig, am Höhepunkt ihres Lebens. Und sie ist mit sich zufrieden. Sie und andere haben die Entwicklung, den Fortschritt, haben die Evolution vorangetrieben. Samantha hat dazu beigetragen, dass die menschliche Arbeitskraft fast restlos von der Erde verschwunden ist. Einheiten fällen Bäume, fertigen Möbel, ernten Getreide, backen Brote, scheren Schafe, nähen Kleider, bauen Chips, bauen andere Einheiten, bauen alles. Sie transportieren, produzieren, unterrichten, verwalten, kommunizieren. Und vor allem funktionieren sie. Weit besser als der Mensch es tut.
Es wird Zeit für sie zu gehen, denn Samantha darf bei der Konferenz nicht fehlen. Sie geht durch Türen und Korridore. In einer perfekten Welt gäbe es hier keine Türen mehr. Dies ist kein Ort für Menschen und man könnte den verfügbaren Platz noch effizienter nützen, wenn man auf den Luxus von menschlichen Arealen in Fabriken völlig verzichtet. Bald hat Samantha die Produktionshalle IV verlassen und tritt hinaus in eine neblige Nacht. Schon vor einer Minute hat sie ein mentales Signal ausgesandt. Eine Transporteinheit wartet bereits auf sie. Samantha lässt sich auf einen weichen Sitz fallen und wünscht sich schottische Volksmusik und einen Kaffee. Beides geht rasch in Erfüllung, während ihr Fortbewegungsmittel durch die Landschaft fegt.
Hinter den transparenten Wänden der Transporteinheit sieht Samantha das riesige Areal der Fabrik vorbei gleiten. Dann folgen Wälder und schließlich die künstlichen Grünflächen der Stadt. Der Nebel verschlingt alles, das weiter als zehn Meter entfernt liegt. Die Straßenlaternen sind machtlos dagegen. Samanthas Gedanken kreisen wieder. Als Kind hat sie einst eine Schwäche für die klassische Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts gehabt. Am besten gefiel ihr stets Isaac Asimov mit seinen seltsamen Utopien. Schon damals hat er die wachsende Bedeutung der Einheiten erahnt und doch verkannt. Da ist eine Begebenheit in seinen Geschichten, die Samantha nie verstanden hat. Warum mussten seine Robots – wie er sie nannte – menschliche Gestalt haben? Dies ist doch völlig unnötig. Niemand würde heute eine Einheit konstruieren, die dem Menschen ähnelt. Zum einen ist dieser Körper völlig unpraktisch, wenn es verschiedenster Fertigkeiten bedarf, zum anderen ist der Gedanke dieser äußerlichen Angleichung von Mensch und Maschine irgendwie beunruhigend. Es gibt keine Robots, nur Einheiten, Einheiten von millionenfacher Form und Gestalt, wovon keine dem Menschen gleich sieht. Ein anderer Mythos des späten zwanzigsten und vor allem des einundzwanzigsten Jahrhunderts hat Samantha immer amüsiert: die Dämonisierung der Maschine. Es gibt genug Werke in Film und Schrift, in denen sich die künstliche Intelligenz der Einheiten gegen ihren Schöpfer wendet. Heute klingt dies lächerlich. Allein der Gedanke, dass eine Einheit etwas anderes tun sollte, als das, wozu sie konstruiert wurde, scheint absurd. Und doch... Ein Satz Asimovs geht ihr nicht aus dem Kopf: „Es gab immer schon Geister in den Maschinen.“ Es stimmt. Manche Dinge bleiben ungeklärt.
Es dauert nicht lange und das Vehikel bleibt stehen. Die Stadt ist zwar groß geworden, doch mit fünfzig Metern in der Sekunde ist fast jedes Ziel schnell erreicht. Samantha steigt aus, betritt eine Glaspyramide und durchquert einige Korridore. Türen schieben sich auf und sie betritt einen kleinen Saal. An einem kreisrunden Tisch haben sich bereits einige Personen eingefunden. Man erhebt sich als Zeichen der Höflichkeit. Man nickt freundlich. Samantha setzt sich hinzu.
Nicht jeder ist körperlich anwesend, obwohl die 3D-Projektionen fast den Anschein erwecken. Bald sind alle eingetroffen. Hier sitzen sie, die letzten Menschen, die noch gebraucht werden. Die Entscheidungsträger. Die Führer. Sie haben die Kontrolle. Sie sind nur zufällig die, die sie sind. Am Ende eines langen Selektionsprozesses waren eben nur diese übrig geblieben. Die Elite. IQ-Titanen ohnegleichen. Nicht, dass ihre Tätigkeiten besonders anspruchsvoll sind, doch die Besten sind eben besser als andere. Niemand wird mehr aus Ambition wichtig. Ambitionen sind überflüssig. Samantha spricht als erste.
Meistens sind Konferenzen dieser Art recht ereignislos. Auch diesmal ist es so. Man berichtet von neuen Techniken, die die Maschinen noch intelligenter und somit den Menschen noch unnützer machen. Immer gibt es weniger Fälle, in denen ein menschliches Eingreifen nötig wäre. Einheiten bauen, warten und reparieren sich gegenseitig. Wenn jemand den Stecker zieht, so stecken sie ihn selbst wieder ein. Ein jedes Problem kann von ihnen erkannt, analysiert und gelöst werden. Manche Einheiten sind auch gute Wissenschaftler, die selbst nach Mitteln und Wegen suchen, um die Prozesse der künstlichen Intelligenz zu verfeinern. Natürlich wird der menschliche Geist noch für lange Zeit nicht nachgebaut werden können, doch dies ist nicht erforderlich. In vieler Hinsicht übertreffen die Chips der Einheiten ohnehin schon lange das menschliche Gehirn. In anderen Dingen, wie zum Beispiel auf der Ebene der Emotionen, ist es nur gut, dass die Einheiten dem Menschen eben nicht nachkommen. Nur emotionslose Einheiten sind fehlerlose Einheiten.
Hans Grahm, ein alter Freund Samanthas, hat an diesem Abend einiges zu berichten. Neue Verbesserungen der neuronalen Schnittstelle bahnen sich an. Ein anderer Kopf der Konferenz berichtet von Fortschritten in der Raumfahrt. Eine unbemannte Sonde ist auf dem Jupitermond Io gelandet. Die Technologie ist hoch genug entwickelt um auch einen Menschen dorthin zu schicken, doch niemand greift diesen Gedanken auf. Man hat schon längst kein Interesse mehr am bemannten Raumflug. Der Mensch hat sich mit der Erde zufrieden gegeben. Die einst recht dicht bevölkerten Kolonien auf dem Mars sind wieder leer geworden. Nur Einheiten sind noch dort und fördern Rohstoffe. Einst träumten die Menschen davon, das Sonnensystem zu kolonialisieren, doch man hat dieses Vorhaben rasch aufgegeben. Durch das Ende der Arbeit ist die Erde zu einem seltenen Paradies geworden. Niemand sucht mehr die Ferne.
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