Li verlässt seine Wohnung. Stundenlang wandelt er durch die nächtlichen Straßen der Stadt – aber nicht planlos. Er hat ein Ziel, dem er sich stetig nähert. Zum ersten Mal seit langer Zeit, hat er ein Ziel. Natürlich könnte er sich von einer Transporteinheit hinbringen lassen, doch das wäre falsch. Nicht zu diesem Ziel. Man muss dorthin einfach zu Fuß gehen, auf eigenen Beinen. Li hat schon lange geahnt, dass er diesen Pfad, den er heute beschreitet, einst wählen würde. Nun ist es soweit. Es ist gut, dass es Nacht ist. Man muss bei Dunkelheit dorthin. Es ist falsch bei Tageslicht an jenen Ort zu gehen. Nichts spricht dagegen es am Tage zu tun, doch es ist falsch. Ein Instinkt sagt nein. Man stirbt in der Nacht.
Li weiß, wo die Stelle ist. Sie wird nicht beworben wie die Bars und die Tanzlokale. Für sie gibt es keine Lichter und Leuchtzeichen. Man spricht und schreibt nicht gerne davon, doch jeder weiß, wo der Ort sich befindet. Er braucht keine Wegweiser. Grünbaumgasse 37. Nicht das Haus, sondern die unbenannte Nische daneben. Ein jeder kennt diese Adresse. Das ist nicht verwunderlich, denn es gibt sie schon seit vielen Jahren und fast alle Menschen erwägen die Möglichkeit früher oder später einmal dort hinzugehen. Grünbaumgasse 37. Diese Worte klingen magisch in den Ohren der Stadt, die Li seine Heimat nennt. Grünbaumgasse 37. Man muss dies flüstern, darf es nicht laut sagen. Man ehrt die Bedeutung dieser Stelle. Es ist egal, wer Grünbaum war, oder ob dort einst ein grüner Baum gestanden hat. Dies interessiert niemanden. Dies weiß kaum jemand mehr. Es gibt viele alte Straßennamen, doch nichts gleicht jenem Ort. Grünbaumgasse 37. Li ist auf den Weg dorthin.
Er biegt gerade in eine neue Straße ein – noch mehrere Häuserblöcke von seinem Ziel entfernt – als er Schritte hinter sich hört. Im ersten Augenblick der Wahrnehmung kommt ihm der Gedanke, dass jemand kommt, um ihn zu hindern, um ihn zu halten; um ihn zu retten, wie sie sagen. Doch ein weiterer Gedanke verscheucht dieses Hirngespinst. Es ist ihnen egal. Sie sind sowieso machtlos. Wer auch immer da hinter ihm naht, es droht wohl keine Gefahr. Li blickt nicht zurück. Die Schritte kommen näher, verlangsamen sich dann und bleiben auf konstanter Entfernung hinter ihm. Dies bleibt so drei Minuten lang. Dann erklingt eine unbekannte Stimme.
„Sie sind auf dem Weg zur Grünbaumgasse?“ Es ist zwecklos es zu leugnen. Und geschmacklos. Warum jetzt noch lügen?
„Ja“, sagt Li, den Blick immer noch starr nach vorne gerichtet.
„Dann haben wir denselben Weg.“ Sein Verfolger holt ihn mit schnellen Schritten ein. Man bleibt stehen und betrachtet sich. Li ist vierunddreißig, glattrasiert und blond. Die Haare trägt er kurz, nur bis zu den Schultern. Sein Gegenüber sieht jünger aus, doch das ist schwer zu sagen. Es scheint indianischer Abstammung zu sein und hat ein Gesicht feiner Züge. Keine Angst ist in seinen Augen. Man geht weiter.
„Endgültige Entscheidung?“, fragt der Hinzugetretene.
„Ja. Endgültig.“
„Lange gezögert, oder schnell entschieden?“
„Ich wusste schon lange, dass es dazu kommt. Es war nur eine Frage der Zeit. Bei Ihnen?“
„Spontan. Ganz spontan. Gestern dachte ich noch an Übermorgen. Heute wurde mir klar, dass ich dieses Übermorgen nicht brauche.“
Sie schweigen. Ein Tier in der Seitengasse. Offene Fenster. Irgendwo Musik.
„Ich hoffe, wir müssen nicht zu lange warten“, sagt der Indianer.
„Stimmt es denn, was man sich erzählt?“
„Dass man dort jetzt Schlange steht? Oh ja. Ich bin oft daran vorbeigegangen. So ganz zufällig. Es sind viele geworden. Mehr jede Nacht.“
„Wir leisten unsern Beitrag.“
„Ja.“
Eine Zeitlang schweigen sie beide. Li stellt sich im Geiste eine Schlange von Menschen vor – alle mit demselben Gedanken, mit demselben Ziel. Keiner hat mehr Hoffnungen und Perspektiven.
„Traurig irgendwie, dass es so viele sind.“, sagt er.
„Traurig? Ich weiß nicht. Es geschieht einfach. Ich finde es gut, die Wahl zu haben.“
„Diese Wahl hatten sie alle. Immer schon.“
„Ja. Doch heute macht es Sinn. Mehr Sinn denn je.“
„Sinn?“ Li hat nie viel über den Sinn seiner Handlungen nachgedacht. Er hat die Dinge einfach nur getan.
„Ja, Sinn“, bestätigt der Indianer. „Nennen Sie doch zum Beispiel Ihre Gründe dorthin zu gehen.“
„Nennen Sie mir doch Gründe nicht dorthin zu gehen.“
„Eben. Es ist... Es ist…“
„Ich weiß, was Sie meinen.“
„Wir sind gleich da.“
Grünbaumgasse 37. Schon von Weitem sieht man sie, die vielen Menschen, die dort Schlange stehen. Einer nach dem anderen dringt langsam vor, hinein in die dunkle Seitengasse. Keiner kommt wieder.
„Da sind wir also“, stellt Lis Begleiter fest.
„Da sind wir.“
Schweigen. Füße auf hartem Grund. Atmen. Ungeduld. Schweigen. Man blinzelt und geht einen Schritt weiter.
„Wie heißen Sie eigentlich?“
„Li Grün.“
„Elijah Richardson. Freut mich.“
Ein Handschlag. Ein Lächeln. Man versteht sich. Schweigen. Man blinzelt und geht einen Schritt weiter.
„Sagen Sie, Li, ich weiß nicht, ob Sie es schon mal gehört haben, aber es gibt da so einen Satz von einem dieser Philosophen des 19. oder 20. Jahrhunderts - ich bin mir nicht sicher. Jedenfalls sagte der: Wer ein Warum zu leben hat, der erträgt fast jedes Wie.“
„Aha.“ Li hat sich nie viel mit Philosophie beschäftigt. Elijah fährt fort.
„Unser Wie ist wunderbar. Wir haben alles, was wir brauchen und viel mehr. Wir können essen, soviel wir wollen, haben Zeit, haben alles, was man sich nur wünschen kann. Alles ist frei. Für nichts muss man etwas geben, nur nehmen und haben. Das Wie des modernen Menschen ist das Wie des Paradieses dieser alten Kinderschreck-Geschichten. Noch nie war das Wie so wunderbar.“
„So wunderbar?“ Die Welt scheint Li alles andere als wunderbar. Sonst wäre er wohl kaum hier.
„Ich spreche nur vom Wie. Denn leider, leider ging irgendwo am Weg zu diesem wunderbaren Wie das Warum verloren. Man hat es fallen und liegen lassen. Im Staub.“
„Im Schlamm“
„Im Abgrund.“
„Und?“
„Wer ein Warum zu leben hat, der erträgt fast jedes Wie. Wer kein Warum zu leben hat, dem ist auch jedes Wie ein Graus, sei es noch so wundervoll.“
Schweigen. Menschen kratzen sich am Kopf. Ein Schritt nach vor. Gemurmel. Schweigen. Zwei Schritte nach vor. Hinein in die Seitengasse.
„Viele scheinen aber doch zufrieden zu sein“, sagt Li.
„Das scheinen sie, ja. Doch die Schlangen werden länger. Ich frage mich wirklich, Li, war es immer so? Waren die Menschen vor zweihundert Jahren wirklich so arm und unglücklich, wie die Geschichten uns berichten? Natürlich gab es Krankheiten damals und Kriege und all die andern Dinge. Man musste ein Leben lang schuften und dann sterben. Und dennoch, eins versteh ich nicht. Wenn die Menschen früherer Zeiten wirklich so ein hartes Leben hatten, warum sehen sie dann auf all den alten Bildern so verdammt fröhlich aus. Was haben sie denn Grund zu lachen. Heute lacht niemand. Haben Sie je darüber nachgedacht, Li?“
„Ja, eben heute Abend als ich die Bilder meiner Vorfahren betrachtete.“ Er schweigt kurz und fügt dann hinzu: „zum letzten Mal betrachtete.“
„Dann wissen Sie, was ich meine.“
„Ja. Wir sind bald dran.“
Das Ende der Seitengasse markiert ein schwarzes Loch in der Wand. Man verschwindet darin. Schnell und schmerzlos. Li weiß darüber Bescheid. Man muss keine Angst haben. Man wird keinen Schmerz spüren. Augenblicklicher Bewusstseinsverlust. Schnelle Verarbeitung. Fischfutter.
Noch stehen acht Menschen vor Li und Elijah. Einer nach dem anderen ist fort. Manche zögern lange, andere verschwinden augenblicklich. Ein kleiner alter Mann ist an der Reihe. Er wartet. Stimmen von hinten. Wieso geht’s nicht weiter? Mach schon, alter Mann. Er macht es nicht. Kehrtwendung und zurück ins Licht. Blicke der Verachtung treffen ihn. Er wird wiederkommen, denkt Li.
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