So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden; Genesis
I
Adam lebt um zu leben. Alles was er braucht und je brauchen wird, ist ihm schon in die Wiege gelegt worden. Wie viele ist er dazu auserkoren nichts zu tun – sein ganzes Leben lang. Er ist frei. Die Welt steht ihm offen. Er kann gehen, wohin er will und sich die Zeit vertreiben, womit er möchte. Doch er braucht nichts zu tun – denn alles wird für ihn getan.
Wenn Adam am Morgen erwacht, dann hat er nur wenige Gründe aufzustehen. Trotzdem tut er es. Er murmelt seinen Frühstückswunsch und schon nach wenigen Minuten stehen Orangensaft, frisches warmes Weißbrot und ein 3-Minuten-Ei für ihn bereit. In der Dusche hat Adam das Bedürfnis nach Musik. Er wünscht sich ein Lied und schon bald kann man in allen Zimmern seiner Wohnung die Beatles hören. Manche Texte alter Lieder haben längst ihren Sinn verloren. Manche nicht.
Adam ist Herr seiner Räumlichkeiten. Seine Sprache ist voller Zaubersprüche. Fast jede Speise kann er sich wünschen und bald darauf wird sie serviert. Bei manchen dauert es freilich länger, da die Zutaten nicht in den Wänden lagernd sind. Aber inzwischen sind die Einheiten in den Zubringerkanälen glücklicherweise so schnell geworden, dass man den Unterschied kaum noch merkt. Doch Adams Macht reicht weit über seine Ernährung hinaus. Alle Lieder kann er sich wünschen, fast alle Filme, die je gedreht worden sind. Möchte er einen bestimmten Duft in seiner Nase haben, so ist das Zimmer bald davon erfüllt. Er muss es nur sagen.
Während er sein Frühstück einnimmt, erscheinen an einer Wand die Neuigkeiten der Stunde. Viel Neues ist aber nicht dabei. Auf der anderen Seite der Welt hat es gerade einen Unfall gegeben. Zwei Vehikel sind miteinander kollidiert. Kein Wunder, denn die Fahrzeuge werden dort noch von Menschen gesteuert. Es gibt auch Gutes zu berichten. In Adams Heimatstadt geht eine neue Einheitenfabrik in Betrieb. Sie wird gewährleisten, dass es künftig keinen Engpass bei der Wartung und dem Austausch alter Einheiten mehr gibt. Bis auf einen im Grunde überflüssigen Kontrolleur, der alle paar Wochen einmal durch die Fabrikshallen geht, gibt es dort sonst keine einzige menschliche Arbeitskraft. Zum Schluss erscheinen noch ein paar allgemeine Fakten. Die Bevölkerungszahlen sinken weiter. Der Wohlstand und die Selbstmordrate steigen gemächlich an.
Nach seinem Morgenmahl geht Adam nochmals ins Bad und betrachtet sich im Spiegel. Was er sieht, gefällt ihm nicht. Er setzt sich in einen Stuhl und lässt sich an der Wand zeigen, wie er mit verschiedenen alternativen Haarstilen aussehen würde. Nachdem er eine Wahl getroffen hat, wird sein Kopf von einer Einheit erfasst und sanft mit der gewünschten Haartracht versehen. Das Ergebnis ist sehr zufriedenstellend.
Adam kleidet sich an und verlässt seine Wohnung. Rasch bringt ihn der Fahrstuhl nach unten. Im Erdgeschoss riecht es heute nach Vanille. Irgendeine klassische Melodie liegt in der Luft. Draußen vor der Tür singen Vögel. Es sind sogar echte. Man kann sie in den Bäumen sehen, wo sie geschäftig ihre Nester bauen. Der Himmel ist blau und es ist Frühling. Ohne Hast wandert Adam durch die menschenleeren Straßen. Sein Ziel ist der Stadtpark. Ein Wort würde genügen und eine Transporteinheit brächte ihn in wenigen Sekunden dorthin. Doch wozu die Eile? Entlang seines Weges flitzen einige Fahrzeuge an Adam vorbei. Obwohl er mitten auf der Straße geht, wird er von keinem erfasst. Es fällt sehr schwer sich vorzustellen, wie die Welt war, als Fahrzeuge noch von Menschen gesteuert wurden. Musste man damals nicht ständig Angst haben?
Adams Gedanken kreisen und versuchen sich die Vergangenheit vorzustellen. Es muss eine Zeit gewesen sein, in der es viel gab, wovor man sich fürchten konnte. Vor zwei Jahren hat sein Badezimmer ihm eines Morgens gesagt, dass sich Adams Blinddarm binnen Stunden entzünden würde. Eine Operationseinheit kam und löste das Problem rasch. Allein die Vorstellung, ein menschlicher Arzt würde an ihm herum schnipseln, jagt Adam schon kalte Schauer über den Rücken. Den Einheiten kann er vertrauen. Den Menschen nicht.
Nach einem kurzen Spaziergang erreicht Adam den Park. Dort sieht er zum ersten Mal an diesem Tag andere Menschen. Viele kommen hierher und beginnen den Tag inmitten der von vielen Einheiten gepflegten Grünflächen. Man füttert Tauben und Eichhörnchen und erfreut sich an den Farben der vielen Blüten.
Adam ist fast jeden Tag hier. Früher war das anders. Noch vor zehn Jahren sah sein Leben viel unruhiger aus. Er hatte damals das Bedürfnis alles auszuprobieren. Sämtliche Extremsportarten hat er gekostet. Er ist gereist von einem Ort zum andern, hat dies und das versucht. Ihm schien es damals, als sei er auf der Suche nach etwas, als müsse er etwas finden, dem er sein Leben widmen konnte. Doch er fand nichts. Jede selbstauferlegte Aufgabe verlor mit der Zeit ihren Reiz. Überall sah es gleich aus. Schließlich beruhigte sich Adams Leben und er lernte den stillen Müßiggang zu genießen. Nicht alle können das.
Die warme Vormittagssonne steht schon hoch, als er Helena erblickt. Sie sitzt auf einer Bank unter einer Linde und hat wie immer ein Buch in Händen, ein echtes physisches Buch aus Papier und Karton. Es gibt nur mehr wenige, die es vorzogen heute noch auf diese Art und Weise zu lesen, da es doch so viel schnellere und effizientere Wege gab. Doch Helena ist immer eine von wenigen gewesen, egal ob es sich um Bücher handelt oder um etwas Anderes. Erst als er sich bis auf zwei Schritte genähert hat, wird sie auf Adam aufmerksam und begrüßt ihn freundlich. Man kennt sich gut, hat sogar eine Zeit lang gemeinsam gelebt, bis unterschiedliche Interessen die beiden Leben wieder auseinander trieben. Helena scheint froh zu sein ihr Buch kurz weglegen zu können. Sie lädt Adam ein sich neben sie zu setzen.
Ohne zu reden verharrt man eine halbe Minute. Man genießt die bloße Nähe und ist dankbar dafür, dass einstige Vertrautheit und tiefe Kenntnis des anderen das Äußern von Höflichkeitsfloskeln unnötig machen. Man versteht sich. Trotzdem rechnet Adam nicht mit dem, was Helena ihm nun anvertrauen wird.
„Was liest du denn gerade?“, fragt er.
Lesen ist Helenas Leidenschaft. Sie liebt Geschichten. Während Adam in seiner Jugend gereist und körperlich an seine Grenzen gegangen ist, hat sie pausenlos gelesen. Auch jetzt noch. Sie liest ihr Leben lang. Dies ist auch ein Grund gewesen, warum eine Beziehung zwischen ihnen auf Dauer nicht halten konnte. Helena schien oft fern zu sein und durch ihre Bücher mehr in anderen Welten zu leben, als in dieser. Adam hat sich für Literatur nie besonders interessiert. Hin und wieder gönnt er sich einen guten, spannenden Film aus dem Action- oder Horrorgenre. Doch lesen ist ihm zu anstrengend.
„Ich lese ein Buch von Charles Dickens. Es heißt David Copperfield. Das wird dir nichts sagen.“
„Nein, nicht wirklich. Und wie ist es?“
„Üppig. Man sieht wie voll und reich ein Leben sein kann, trotz vielen Elends. Und man sieht, wie leer unser Leben im Gegensatz dazu ist.“
Sie blickt ihm tief in die Augen und Adam erkennt, dass es weder Sarkasmus noch Humor ist, der ihre Worte formt, sondern tiefer, wahrer Kummer. Er will sie aufheitern, doch er weiß nicht wie.
„Ach, komm. Alles scheint anders, als es ist. Ich wette, hättest du damals gelebt, du hättest dir nichts sehnlicher gewünscht als in der Welt von heute zu leben.“
Sie antwortet nicht, sondern sieht ihn nur stumm und traurig an. Während er sprach, hat ihr Adam seine Hand auf das Knie gelegt. Nun legt sie ihre Hand auf die seine. Ihr Gesicht ist ganz nah und er spürt, wie ihr Blick zwischen seinen beiden Augen unruhig hin und her wechselt. Zittert ihre Hand? So hat Adam sie noch nie erlebt. Ist es die Sehnsucht nach dem, was zwischen ihnen war, welche sie plötzlich so unruhig macht?
Читать дальше