Das Leben unter ihrer Mannschaft ist so schön. Jane verspürt den heißen Wunsch für immer dort zu bleiben, doch es geht nicht. Hin und wieder muss sie essen, hin und wieder schlafen. Und auch arbeiten muss sie. Doch jeder Besuch in der Realität wird bald zur schmerzvollen Erfahrung. Es ist alles so hässlich dort. Besonders Janes Wohnung ist hässlicher geworden, hat sie doch keine Zeit mehr um zu putzen. Es gibt Wichtigeres. Einmal fällt ihre Schicht am Freitag aus und Jane spielt gleich zwanzig Stunden ununterbrochen von Freitag Abend bis Samstag Nachmittag. Als sie in ihrem Sessel zu sich kommt, fühlt sie sich schrecklich. Ihre Kehle brennt vor Durst. Ein Blick in den Spiegel lässt sie erschaudern.
Dann hört sie von einer neuen Möglichkeit. Inzwischen sind viele Menschen in ihrer Umgebung der VRIII verfallen und einigen geht es ähnlich wie Jane. Man will nicht mehr in die Wirklichkeit zurückkehren aufgrund unwichtiger Banalitäten wie Essen, Trinken und Schlafen. Jane macht es also wie die anderen. Sie besorgt sich die nötigen Utensilien, sticht sich eine Nadel in den Arm und wird so künstlich ernährt und mit allen nötigen Vitaminen versorgt. Endlich kann sie ungestört leben.
Was bleibt, ist die Arbeit. Schon oft hat Jane gerechnet. Wenn sie kündigen würde, dann könnte sie von ihren Ersparnissen fast ein Jahr leben. Ein ungestörtes Jahr auf See mit ihren Männern. Das klingt himmlisch. Doch was dann? Soll sie es einfach tun, sich einfach keine Sorgen machen, einfach die Taste drücken und wählen: „365 Tage ohne Erinnerung“? Es wird einst der Tag kommen, an dem sie erwacht...
Aber es gibt noch andere Möglichkeiten. Jane kann ihre Wohnung verkaufen. Es gibt billige Einzimmer-Apartments. Das reicht. Es braucht nicht viel um glücklich zu sein: ein Bett, künstliche Ernährung, eine Pflegerin, die die Fläschchen auffüllt und die Urinbeutel entleert; und die VRIII. Jane hat gehört, dass es dergleichen Arrangements gibt. Viele Leute tun Ähnliches. Wenn sie alles verkauft, was sie besitzt, dann wird sich Jane fast fünf Jahre lang ein solches Leben leisten können. Ununterbrochenes, wunderschönes, wirkliches Leben. Sie lechzt danach. Und sie beschließt es zu tun. Sie beschließt sich keine Sorgen um die Zeit nach dem Erwachen zu machen. Das ist erst in fünf Jahren. Bis dahin wird sie lebendiger sein als je zuvor. Sie schaltet die Realität einfach ab. So wie ihr geht es vielen. Das Spiel ist schöner als die Realität geworden, wirklicher und wahrer als die Realität. Also fort mit ihr.
III
Hermann hat es nie versucht. Irgendeine innere Stimme hat ihn davon abgehalten. Er hat die anderen dabei beobachtet, ist auch neugierig geworden, doch gewagt hat er es nie. Im Nachhinein ist er unendlich dankbar für diese innere Stimme. Er ist ein Beobachter und er hat gesehen, was aus den Menschen geworden ist.
Es gibt heutzutage riesige Gebäude mit endlosen Korridoren und tausenden Türen. Hinter jeder Tür eine Kammer, in jeder Kammer ein Mensch. Scheinbar leblos liegen sie da, angestöpselt an ein paar Schläuche zur Versorgung des Körpers und an eine VRIII oder ähnliches. Maschinen halten sie am Leben. Es bedarf dazu keines menschlichen Personals mehr. Wo immer diese Träumenden im Geiste auch sind, viele von ihnen kehren nie mehr von dort zurück. Sie bleiben dort. Sie sterben dort. Und es sind immer mehr.
Hermann kann sich noch an die Straßen seiner Jugend erinnern. Wie belebt sie waren. Viele Menschen bevölkerten die alte und die einzige Welt. Heute ist sie leer geworden. Zwar gibt es zahlenmäßig mehr Menschen als in Hermanns Jugend, doch sie leben nicht mehr. Sie spazieren nicht mehr durch die Straßen, sprechen nicht mehr miteinander. Sie essen nicht in dieser Welt. Sie schlafen nicht in dieser Welt. Und ihr Geist ist ganz woanders. Kann man da noch von Leben sprechen?
Hermann, welcher sechzig Jahre alt ist und durch die menschenleeren Straßen humpelt, weiß es nicht. Er hat nur Angst und ihm ist kalt ums Herz. Er ist allein. Er hat niemanden mehr in dieser Welt. Seine einstigen Bekannten sind entweder tot oder irgendwo in fernen Welten. Ihr Körper mag ja noch hier sein, hinter irgendeiner Tür irgendeines Korridors, doch ihr Geist ist weit, weit weg. Für Hermann könnten sie ebenso gut tot sein. Es macht keinen Unterschied.
Manchmal denkt Hermann über sein Schicksal nach und lächelt. Es war nicht seine Weisheit, die ihn davon abgehalten hat, jemals einen Ausflug in eine virtuelle Welt zu machen. Nicht seine Vorsicht, seine Umsicht oder Voraussicht. Er ist einfach seit seiner Jugend schon jemand gewesen, der gerne gegen den Strom schwimmt. Wenn etwas in Mode war, dann ist dies für ihn stets Grund gewesen dasselbe zu meiden. Wäre die VRIII damals ein unbeliebtes Außenseiterprodukt gewesen, er hätte keine Scheu gehabt sie auszuprobieren. Die Dinge sind aber anders gekommen. Mit der Zeit traten auch andere Gründe hinzu, die Hermann die virtuelle Welt, in welcher er nie gewesen ist, verleideten. Er sah, was sie aus den Menschen macht. Immer mehr wandten sich gänzlich ab von der Wirklichkeit. Sogar solche hat Hermann gekannt, die einst lautstark vor der Gefahr, die von der VRIII ausgeht, gewarnt hatten, und dann selbst ihrem Zauber erlagen.
Friedrich ist ein solcher gewesen. Hermann hat ihn ein halbes Leben lang gekannt. Zusammen haben sie oft und lange gegen die modernen Entwicklungen gewettert, haben davor gewarnt und die alten Zeiten gepriesen. Beide sind sie sehr einsam gewesen. Friedrich lebt auch jetzt noch. Sein einstiger Freund weiß nicht genau wo. Er liegt sicherlich hinter irgendeiner Tür in irgendeinem Korridor. Wo auch sonst? Er ist gefallen. Er hat es versucht und wieder versucht und schließlich nicht mehr damit aufgehört. Die virtuelle Welt ist ein stärkeres Suchtmittel als alle Drogen dieser Welt. Sie macht abhängig und ist ansteckend. Sie stiehlt dem Mensch die Wirklichkeit. Sie gaukelt ihm eine andere Welt vor. Sie zerstört, zersetzt und vernichtet. Irgendwann stirbt man dann ohne je richtig gelebt zu haben.
Etwa zwanzig Jahre liegt es zurück. Damals gestand Friedrich seinem Freund Hermann, dass er es einmal versucht hat und wieder versuchen wollte. Ganz enthusiastisch schien er. Der alte Mann weiß die Worte von damals auch heute noch.
„Stell dir eine Welt vor, in der du alles tun kannst. Es gibt keine Grenzen. Du kannst sein, wer du willst, sein wer du bist. Dort kannst du dein Leben lieben. Alle Wege stehen dir offen. Es ist ein weiter Ozean der Möglichkeiten, kein enges Tal wie unsere Welt. Alles ist möglich. Wünscht du dir ein bestimmtes Erlebnis, dann erlebe es einfach. Deine wildesten Fantasien kannst du dort ausleben. Vergiss einfach die Wirklichkeit. Lehn dich zurück und lebe. Es ist echt. Echter als die Wirklichkeit. Es fühlt sich viel intensiver, viel realer an. Tu mir den Gefallen und probier es aus. Du wirst schon sehen.“
Hermann tat ihm den Gefallen nicht. Sein Gefasel hätte ebenso gut einem der damaligen Werbespots entnommen sein können. Dort sagten sie genau das gleiche. Alle sagten sie das gleiche. Gerade deshalb wollte Hermann nicht hören.
Heute gibt es keine Werbespots mehr. Wer würde denn noch hinsehen? Das hat längst aufgehört. Alles hat längst aufgehört. Die Menschen schwinden und mit ihnen schwindet ihre Welt. Zurück bleibt nur Hermann, der schwer atmend durch die Straßen humpelt. Vor zwei Wochen verletzte er sich am Bein. Die Wunde hat sich inzwischen entzündet. Hermann kann nichts dagegen tun. Es gibt keine Ärzte mehr, zu denen er gehen kann. Es gibt kaum mehr etwas.
Heute hat Hermann noch keinen anderen Menschen gesehen. Es werden immer weniger und allmählich hört alles auf. Mit den Menschen sind auch ihre Institutionen verschwunden. Wie sollten sie denn bestehen, wenn doch niemand mehr zur Arbeit geht? Alles ist ruhig geworden. Die ganze Welt ist eingeschlafen. Vor Monaten hat ein Unwetter die alte Brücke am Hafen beschädigt. Hermann hat es gesehen. Aber es ist niemand mehr da um sie zu reparieren. Wer verlässt schon gerne sein selbst gewähltes Paradies um im kalten Wind einen Baukran zu bedienen?
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