Moll atmete tief durch. Immer, wenn sich ein Gespräch unmittelbar auf seine Person zu richten begann, spürte er diese Enge in der Brust, einen Druck, als wollte ihm jemand direkt ans Herz. Aber ich lasse es nicht zu, dachte er. Sybilla Trinks musste plötzlich lachen. „Als ich Sie vorhin mit dem jungen Mann da hereinkommen gesehen habe, dachte ich im ersten Moment, das wäre Ihr Sohn. Ja! Irgendwie sehen Sie sich ähnlich. Er ist ja schon länger hier, und ich habe ihn öfters beobachtet, wie er geht, spricht, die Hände bewegt. Aber jetzt, wo ich Sie kenne – also, diese Ähnlichkeit – verblüffend, wirklich!“ Moll schien verwirrt. Wo saß doch dieser Manon gleich? Ach ja, gleich rechts von ihnen. Merkwürdiges Profil. Sieht mir überhaupt nicht ähnlich. Vielleicht sehe ich mich zuwenig oft von der Seite, überlegte er. „Ich glaube, Sie sind ein Mensch, der gerne lange überlegt, bevor er sich entscheidet, wie? So jemand, der sich erst später zu etwas entschließt als andere, richtig?“ „Weiß nicht“, sagte er etwas abwesend, „war das ein – Kompliment?“ „Ja, wenn Sie das so sehen?“, lächelte Trinks und zeigte ihre herrlichen Zähne. Dann nippte sie ein wenig am Wein. „Wenn sie mich entschuldigen!“ Moll stand auf, und ging an Manon vorbei, den er sehr genau beobachtete, in Richtung des Salatbüffets.
Zu dumm, denn gleich mit ihm war auch Rabitsch aufgestanden, ebenfalls dorthin. Das hätte er gerne vermieden, ärgerte sich Moll. „Na, wie ich sehe, haben Sie ja sofort Anschluss an unsere illustre Runde gefunden wie?“ Rabitsch lachte unangenehm laut, sodass Moll das Gefühl hatte, alle Blicke auf sich gerichtet spüren. Konnte denn dieser Mensch nicht etwas gedämpfter sprechen? Man war schließlich nicht auf dem Marktplatz! „Sagten Sie vorhin nicht, Sie kämen schon länger hierher? Wie kommt es, dass ich Sie noch nie hier gesehen habe?“, drängte ihn Rabitsch. Sein unverschämt lautes Organ machte Moll völlig konfus. Jetzt mussten es alle gehört haben, und er – durfte hier Rede und Antwort stehen, und dann wüssten alle, dass er – „Ja, ja. Ich glaube, schon seit - warten Sie – heuer werden es zwölf Jahre etwa. Aber ich bin meistens im August hier.“ „Aha, ja, da sind wir schon wieder weg. Brioni, Sie verstehen. Hier ist es zu kalt. Einmal regnet es, dann scheint wieder die Sonne, manchmal schneit es sogar. Wer soll das aushalten? Wir lieben die Sonne und das Meer!“
Wer, wir? Seine Frau war damit wohl nicht gemeint, dachte Moll. Dieser aufgeblasene Kerl, mit seiner ewigen Schalkrawatte, dem englischen Sakko. Dieser Pseudobaron! Genau, jetzt hatte er endlich einen Begriff für ihn gefunden. Der Baron! Von jetzt an würde er ihn überall den Baron nennen. Das passte zu ihm, zu seiner Überheblichkeit! „Was nehmen Sie? Von den Karotten? Ist gut für die Augen, sagt mein Arzt. Sehen Sie, ich bin zweiundsiebzig und brauche die Brille doch nur zum Lesen. Alles wegen der Karotten! Ich habe immer viel Gemüse und Obst gegessen! Das hält fit. Sollten Sie auch probieren. Sie sind ja noch jung. Ihr Jungen esst immer nur so ungesunde Sachen. Viel zu viel Fleisch, sag’ ich immer! Und zu viel Alkohol! Mein Sohn, der ....“ Moll fühlte die Schweißtropfen auf seiner Oberlippe. Er hatte mit dem roten Rübensalat in die grünen Gurken hineingepatzt, worauf sich eine dünne Spur wie der sprichwörtliche rote Faden durch das Grün zog. Ärgerlich, wirklich, dabei hatte er so aufgepasst, und immer einen anderen Löffel genommen. Nur, dieser Rabitsch, der verwirrte ihn völlig. Er hatte das Gefühl, plötzlich nicht mehr selbständig denken zu können. Das erledigte alles Rabitsch für ihn. Dieser Mensch legte sein Gehirn lahm. „Ha ha ha!“, lachte Rabitsch. “Na, da haben Sie ja was angerichtet. Geh’, Fräulein Trixi!“, rief er laut, dass sich alle nach ihnen umdrehten, „wir haben hier ein kleines Problem! Vielleicht könnten Sie...“. Fräulein Trixi eilte sogleich herbei. „Gehn Sie, sind Sie so lieb, dem lieben Herrn Moll ist da ein kleines Missgeschick passiert. Vielleicht könnte man den Gurkensalat da auswechseln? Das schaut nicht so gut aus, bitte, Ja?“ Fräulein Trixi nickte artig und nahm die verunreinigte Schüssel sofort mit in die Küche.
Moll wollte eigentlich sterben, und nur die freundlichen Blicke, die ihn von Trinks Tisch her trafen, hielten ihn davon ab, augenblicklich und für immer im Parkett zu versinken. Er holte ein Taschentuch aus seiner Hosen-tasche und tupfte damit seine feuchte Stirn. „Lassen Sie es sich schmecken!“, lachte Rabitsch und kehrte wieder an seinen Tisch zurück. Moll, mit zittrigen Händen, hob sein Salatschüsselchen hoch, um sicher zu sein, dass auch nichts tropfte und ging wie gelähmt an seinen Tisch zurück, völlig verwundert darüber, dass er nach dieser Blamage überhaupt noch selbständig gehen konnte, und seine eigenen Beine seinem Willen gehorchten. Sybilla Trinks hatte ihre Arme auf dem Tisch aufgestützt, während sich ihr Mund in ihre wie zum Gebet gefalteten Hände schmiegte, und lächelte still vor sich hin. Moll war schweißgebadet und setzte sich, das volle Schüsselchen vorsichtig vor sich auf den Tisch stellend. Dann nahm er einen großen, langen tiefen Zug aus dem Bierglas. Sie beobachtete ihn sehr lange und sprach kein einziges Wort. Die Schweißtropfen auf seiner Stirn glänzten wie Diamanten und gaben ihm beinahe den Ausdruck des Schmerzens-mannes bei Tizian, fehlten nur noch die Attribute, Dornenkrone und Ahornstab. Moll wagte kaum, den Blick zu heben und er fühlte jenen der anderen schwer in seinem Nacken lasten. „Was haben Sie denn?“, fragte Sybilla Trinks. Gott, ist diese Frau naiv, dachte Moll, und zum ersten Mal spürte er, dass sie ihm plötzlich ganz unsäglich auf die Nerven ging. Warum musste er sich ausgerechnet zu ihr setzen? „Ja, haben Sie nicht gesehen, wie er mich gedemütigt hat, vor allen Leuten?“ „Wieso denn? Mir ist nur aufgefallen, dass Sie etwas länger gebraucht haben, ihre Salatschüssel zu füllen“, sagte sie beinahe belustigt. „Ach was!“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Sie sind ja richtig leicht aus dem Konzept zu bringen!“ setzte sie nach. Moll kostete vom Salat. Mit kauendem Mund meinte er: „Mir ist nichts so zuwider, wie enge, heiße Räume!“, und er lockerte ein wenig seine Krawatte, die sich wie ein Seil um seinen Hals zu legen drohte. „Enge Sitzreihen! Im Kino! Oder gar im Flugzeug! Nein, fliegen, dass kann und will ich nicht mehr. Da bekomm’ ich Zustände, sag’ ich Ihnen. Ganz fürchterlich!“ „Also Klaustrophobie?“ „Quatsch! Ich will einfach mit niemandem mehr meinen Platz teilen müssen. Wie komm’ ich denn dazu? Es gibt jede Menge Platz! Warum muss ich ...?“
Er hielt inne. Jetzt war es wohl passiert. Sie musste sich bereits das fürchterlichste Bild von ihm gemacht haben. Ja, jetzt war es draußen. Moll, der ewige Nörgler und Meckerer! Das Bild vom sensiblen interessanten distinguierten Gentlemen war dahin! Restlos! Stattdessen hatte er den Choleriker hervorgekehrt! Und Schuld hatte einzig und allein der Baron! Warum bin ich nicht auf meinem Zimmer geblieben? Oder hätte ich mich besser zu Manon setzen sollen? Er war im Zweifel, ob dieser Abend überhaupt noch zu retten war. Er dachte daran, schnell von sich abzulenken, daher sagte er: „Der Baron – ein seltsamer Mensch eigentlich, finden Sie nicht?“ „Was denn für ein Baron?“, fragte Trinks neugierig. Moll deutete mit seinem Kopf hinüber zu Rabitsch. Sybilla Trinks lachte auf. „Ach, haben Sie ihm einen Titel verschafft? Also, das finde ich großartig, wirklich!“, und sie lachte aber-mals herzlich. „Sie sind schon wirklich auch ein komischer Kauz, Herr Moll!“, sagte sie, „aber ein liebenswerter!“, und blickte ihm abermals tief in die Augen. Was hat sie vor, dachte er? Was soll das jetzt? Ich bin doch durchgefallen, oder? Ich muss bei ihr durchgefallen sein! Das Gefühl kenne ich. Ich – ich – ich kann nicht! Dann lassen sie`s, hatte der Professor damals zu ihm gesagt, lassen sie es einfach! Moll spürte neuerlich, wie seine Stirn feucht wurde. Da, plötzlich der erlösende Auftritt des Verwalters. Gott sei Dank! Ich bin gerettet!
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