Der Südwind
Johannes Prestele
Start
Herbstbeginn Herbstbeginn Im Süden der Stadt verschwanden die weiter entfernten Berge in dicken Wolken. Ein ausgewachsener Sturm tobte dort. Knapp unter einem Gipfel drückten heftige Windböen gegen die Steinmauern einer Berghütte. Der Hüttenwirt betrachtete durch ein kleines Fenster den aufgewirbelten Regen. Unter die fetten Tropfen mischten sich immer mehr Schneeflocken. Plötzlich erschrak der Wirt. Auf dem Weg vom südlichen Tal herauf stapfte ein Bergsteiger nach oben. Der Sturm wütete nach wie vor. Den Bergsteiger schien das Wetter wenig zu beeindrucken, er ging sicher und wankte nicht. Schnell erreichte er den Platz vor der Hütte. Der Wirt erwartete den Schwall Eiseskälte, der sich gleich herein und weiter über die Treppe ins Obergeschoss bis unter das Dach ergießen würde, wenn die Eingangstüre sich öffnete, doch - es geschah nicht. Der Wirt guckte aus einem anderen Fenster. Der Bergsteiger war einfach vorbei gewandert, er folgte dem Weg auf der Nordseite abwärts. Das konnte nicht wahr sein! Der Wirt lief zur Eingangstür. Um sie aufzustemmen, brauchte er seine ganze Kraft, wie das gierige Maul eines Ungeheuers fauchte der Sturm in die Hütte. Tausende kleine Eiskörnchen stachen wie Nadeln ins Gesicht des Wirts, er schrie: “He, komm’ zurück! Das überlebst du heute nicht!” Den Bergsteiger schien die Gischt aus Regentropfen, Schneeflocken und Graupeln zu verschlingen. Es war eindeutig zu viel Wasser und Eis, alles quoll in den Augen über, der Hüttenwirt zumindest konnte rein gar nichts mehr sehen. Der Sturm knallte die Tür zu. Der Wirt fiel rückwärts und schlug auf dem Boden auf. Keuchend blieb er eine Weile liegen. Er hatte Mühe beim Aufstehen, er war auf sein Kreuz gefallen, es schmerzte. Er ging in die Küche und kochte sich eine heiße Schokolade. Der Wirt beschloss, niemandem etwas zu erzählen. Je länger er darüber nachdachte, desto unglaublicher erschien ihm, was da gerade passiert war.
September
Oktober
November
Dezember
Jänner
Februar
März
Impressum neobooks
Im Süden der Stadt verschwanden die weiter entfernten Berge in dicken Wolken.
Ein ausgewachsener Sturm tobte dort.
Knapp unter einem Gipfel drückten heftige Windböen gegen die Steinmauern einer Berghütte.
Der Hüttenwirt betrachtete durch ein kleines Fenster den aufgewirbelten Regen.
Unter die fetten Tropfen mischten sich immer mehr Schneeflocken.
Plötzlich erschrak der Wirt. Auf dem Weg vom südlichen Tal herauf stapfte ein Bergsteiger nach oben.
Der Sturm wütete nach wie vor. Den Bergsteiger schien das Wetter wenig zu beeindrucken, er ging sicher und wankte nicht. Schnell erreichte er den Platz vor der Hütte.
Der Wirt erwartete den Schwall Eiseskälte, der sich gleich herein und weiter über die Treppe ins Obergeschoss bis unter das Dach ergießen würde, wenn die Eingangstüre sich öffnete, doch - es geschah nicht.
Der Wirt guckte aus einem anderen Fenster.
Der Bergsteiger war einfach vorbei gewandert, er folgte dem Weg auf der Nordseite abwärts.
Das konnte nicht wahr sein!
Der Wirt lief zur Eingangstür. Um sie aufzustemmen, brauchte er seine ganze Kraft, wie das gierige Maul eines Ungeheuers fauchte der Sturm in die Hütte.
Tausende kleine Eiskörnchen stachen wie Nadeln ins Gesicht des Wirts, er schrie:
“He, komm’ zurück! Das überlebst du heute nicht!”
Den Bergsteiger schien die Gischt aus Regentropfen, Schneeflocken und Graupeln zu verschlingen.
Es war eindeutig zu viel Wasser und Eis, alles quoll in den Augen über, der Hüttenwirt zumindest konnte rein gar nichts mehr sehen.
Der Sturm knallte die Tür zu.
Der Wirt fiel rückwärts und schlug auf dem Boden auf.
Keuchend blieb er eine Weile liegen.
Er hatte Mühe beim Aufstehen, er war auf sein Kreuz gefallen, es schmerzte.
Er ging in die Küche und kochte sich eine heiße Schokolade.
Der Wirt beschloss, niemandem etwas zu erzählen.
Je länger er darüber nachdachte, desto unglaublicher erschien ihm, was da gerade passiert war.
Die Köpfe der Menschen
Der Südwind wehte von den Bergen herunter. Er bescherte der Stadt saubere und überraschend warme Luft.
Die Menschen konnten die Sommerkleider noch einmal anziehen. Wer Zeit hatte, unternahm etwas im Freien.
Nach einem feinen Spaziergang etwa bot sich auch eine Rast in den Gastgärten der Cafés an.
An den Tischen erzählte man sich häufig, wie es denn so war im letzten Frühling.
Essen und Trinken gelang nicht ganz so einfach, der Südwind blies kräftig. Man musste zufrieden sein, wenn er nur die Servietten über die Tische wirbelte.
Auch die Gesichter der Liebenden streichelte er selten zärtlich. Eher fegte er wie ein kleines Biest durch die Straßen, um Häuser und Bäume herum, hinein in alle Gärten und Parkanlagen und - womöglich in die Köpfe mancher Menschen hinein.
Die erwischten Menschen fielen natürlich nicht sofort um und konnten leidlich gerade gehen, aber – irgendwie wehrten sie sich nicht dagegen, dass ihre Gedanken plötzlich wuselten.
Einige Leute wurden wirr, andere böse, die nächsten wiederum bildeten sich Krankheiten ein. Viele wollten am liebsten den ganzen Tag verschlafen und ihre Ruhe haben.
Das eine oder andere Mal jedoch geschah es auch, dass Menschen „auf den richtigen Weg“ verblasen wurden. Die taten dann endlich das, was sie schon immer tun wollten.
Und sagten, was sie seit Langem zu sagen gedachten.
Oder sie bekamen eine Chance für ein neues Glück.
Das Mädchen auf der Wiese
Am Beginn des hohen Bergstockes im Norden der Stadt waren Häuser gebaut worden, wie ein Saum schmiegten sie sich an die Hänge.
Hinter den Häusern lagen in einem weiteren Streifen etliche Wiesen und Getreideäcker, danach erstreckte sich der große Bergwald weit hinauf, ganz oben wurde dieser wieder von Wiesen abgelöst, die ihrerseits unter felsigen Gipfeln endeten. Diese ganze Nordseite von und über der Stadt wurde von der Sonne verwöhnt.
Oberhalb eines Getreidefeldes, in einer Wiese mit kurzem Gras, saß ein Kind.
Es war gerade mal zehn Jahre alt, hatte blonde, schulterlange Haare und sein Gesicht behielt die Sommersprossen jedes Jahr bis spät in den Januar.
Auch Maria, so hieß das Mädchen, trug nun Ende September noch einmal Sommerkleider unter dem wolkenlosen Himmel. Nichts Schöneres konnte Maria sich heute vorstellen, als einfach nur in der Wiese zu sitzen.
Sie hatte eine umgeknickte Ähre vom Feld unter ihr mitgenommen und spielte nun damit.
Seit dem Morgen wehte der Südwind, auch hier in den Wiesen und Feldern. Er trieb die goldenen Ähren und Halme des Getreides in Wellen vor sich her.
Er zeichnete großartige Muster im Feld, welche ganz schnell wechselten und wunderschön anzusehen waren. Maria merkte von all dem nichts, sie löste die Körner aus ihrer Ähre und streute sie von sich weg.
Nachdem kein Korn mehr übrig war, warf sie den Halm fort, zog ihre Knie an sich und fasste mit den Armen herum. Sie blickte hinüber zu einem großen Berg, der sich auf der anderen Talseite erhob.
Die Leute in der Stadt waren auf den Südwind aufmerksam geworden, sie sprachen über ihn.
Sie frohlockten und schimpften in einem Atemzug wegen ihm.
Nichts dergleichen kam Maria in den Sinn, sie war in ihren Gedanken versunken.
Trotz ihrer wehenden Haare schien sie so zu tun, als wäre er nicht da. Der Südwind verstand es nicht. Warum wurde er ausgerechnet von diesem Mädchen nicht beachtet? Seine schaffenshungrige gute Laune zerfledderte, er fühlte sich gar nicht mehr wohl.
Читать дальше