Moll nickte scheinbar verständnisvoll. „Mag schon sein“, erwiderte er, dem Grafen, „das war allerdings nichts Besonderes, denn innerhalb ihrer sozialen Gruppe haben sie sich ja gegenseitig immer wieder selbst ausgezeichnet und mit diversen Ämtern belehnt, wie wir alle wissen.“ Traunstein räusperte sich, er wurde etwas rot im Gesicht, während Rabitsch unruhig auf seinem Sitz hin und her rutschte und vom Rotwein trank, den Fräulein Trixi serviert hatte. „Herr, äh? – verzeihen Sie...“. „Moll!“ „Richtig! Herr Moll, ich erlaube mir trotzdem festzustellen, dass uns dieser Titel, auch wenn wir ihn im Sinne des sogenannten Adelsverbotsgesetzes nicht offiziell tragen dürfen, doch so etwas wie ein Privileg darstellt, nicht wahr?“ In diesem Augenblick wurde die Salontür heftig aufgestoßen, und Anna, der gute Geist des Hauses, Mittelding zwischen Krankenschwester und Zimmerfrau, gleichsam Mädchen für alles, stürmte herein: „Herr Rabitsch, verzeihen Sie, schnell, Ihre Frau – ein Asthmaanfall. Sie ist oben in ihrem Zimmer!“, stieß sie atemlos hervor, und war auch gleich wieder zur Türe hinaus. „Dass man nie seine Ruhe hat, mein Gott!“, klagte Rabitsch und verdrehte die Augen. Er erhob sich gemächlich. „Sie hat ja ohnehin ihren Inhalator mit, kann sie denn nicht...“, und zu Traunstein und Moll gewandt, bemerkte er: „Ich weiß nicht, gestern auch schon – geht halt manchmal ein bisserl zu rasch, so etwas. Da kann man halt nichts machen. Keine Ruh‘ hat man, wenn man einmal gemütlich beisammen sitzen könnte, was?“, lachte er und verließ den Salon.
Moll und der Graf sahen sich wortlos an. Vom ersten Stock her drangen Geräusche trockenen Hustens zu ihnen herunter, heftiges Räuspern. Dann Stimmengewirr. Rabitschs lautes Organ – dazwischen wieder Husten. Diese schreckliche Ahnung einer Atemnot, die aus dem ersten Stock durch den Stuck der Decke strömte, begann Norman Moll mit Angst zu erfüllen. Er trank rasch einen Schluck Kognak, den er bisher noch nicht angerührt hatte und ertappte sich dabei, plötzlich selber an Sauerstoffmangel zu leiden, ja, beinahe das Atmen zu vergessen - begann plötzlich die Panik drohenden Erstickens am eigenen Leib zu erfahren, vielleicht aus Solidarität mit Rabitschs bedau-ernswerter Gattin? Es verengten sich ihm bereits die glatten Muskeln seiner vom Tabak gereizten Bronchien, deren innere Schichten zu schwellen begannen – zähen Schleim absondernd - die Atemwege schienen enger und enger zu werden, Moll musste sich anstrengen . Ein- und Ausatmen gerieten zur Qual - er stützte seine Arme in die Hüften, um leichter Luft zu bekommen. „Ist Ihnen etwa nicht gut?“, fragte der Graf besorgt, der Moll beobachtet hatte. „Wie? Äh – nein, nein! Es ist nichts.“ Da endlich tat der Kognak seine ersehnte, muskel-entspannende Wirkung.
Moll war es auf einmal wieder möglich, frei durchzuatmen. Sicherheitshalber nahm er noch einen größeren Schluck, schließlich konnte man nicht wissen... Noch immer war Rabitschs Stimme von oben zu hören, wie er offensichtlich auf seine Frau einredete, vielleicht etwas gedämpfter also zuvor. Doch immerhin schienen die Intervalle der Hustenanfälle jetzt langsam länger zu werden. Indessen hatte auch Traunstein ein Glas Rotwein bei Fräulein Trixi bestellt, die, beinahe zu Tode erschrocken über den ungewohnten Vorfall bei den Rabitschs das elegante Glas mit zittrigen Händen am Tisch abstellte und heiser ein „Sehr zum Wohl!“ lispelte, worauf sie bleich und grußlos wieder verschwand. Moll griff gedankenverloren zur Pfeife, zündete den Tabak an, um sofort heftig am Mundstück zu ziehen. Dicker Qualm stieg auf. Der Graf sah Moll aufmunternd an. „Hm!“, machte er, „hervorragende Raumnote! Vorhin dachte ich, Sie würden mir jeden Moment.... na, es geht Ihnen wieder gut, wie ich sehe, und rieche!“, lachte er. Moll mochte seine Stimme gut leiden. Eigentlich sympathisch, dachte er, kein Vergleich mit Rabitsch, dem Ekel. Fräulein Trixi war erneut in den Salon gekommen, um die weißen Teelichter in den kompottschalenartigen, nach oben geschlossenen Glasgefäßen an den Tischen anzuzünden. Als sie sich der Kerze an Molls und des Grafen Tisch näherte, und sich weit über die Mitte des Tisches beugte, um diese mittels Streichhölzer höchst umständlich zu entzünden, bot sich den beiden Herren, völlig unerwartet, ein deliziöser Ausblick in eine sanft geschwungene, fahle Bucht, welche der Ausschnitt ihrer Bluse großzügig freigegeben hatte. Moll nahm den Grafen unauffällig ins Visier, der beinahe Stielaugen bekam, und eben dabei war, eine offensichtlich ganz ausgeklügelte Strategie zu entwickeln, die es ihm gestatten sollte, dem ihm mittlerweile ach so selten vergönnten Schauspiel so nah wie möglich beiwohnen zu können und einen, für die kurze Dauer des Ereignisses durchlauchten Blick zu positionieren, indem er sich in seinem Fauteuil blitzschnell so gerade aufsetzte, wie es ihm seine ramponierte Wirbelsäule, wohl nur in ganz seltenen Fällen sicherlich, für einen sehr begrenzten Zeitraum gestattete, ohne sofort gleich Opfer eines irreparablen Bandscheibenvorfalles zu werden, jedoch immerhin in der Hoffnung, mit dem, wenn auch noch so geringen Erfolg belohnt zu werden, noch ein einziges Mal ungestraft die verbotenen Früchte des Paradieses zu schauen.
Fräulein Trixi bemerkte in ihrer infantilen Naivität von all dem nichts, lächelte die beiden Herren unschuldig an und entfernte sich nach getaner Arbeit wieder. „Charmant!“, flüsterte der Graf kaum hörbar, „charmant!“ Er sah zu Moll hin, der kaum merkbar die Mundwinkel zu einem Lächeln verzog und fragte: „Lieber Moll, so versunken? Woran denken Sie? Hören Sie noch was von da oben?“ Moll schüttelte den Kopf. „Das Schlimmste dürfte vorbei sein, hoffentlich“. „Möge Gott, dass Sie Recht haben“, sagte Traunstein, und fuhr fort, „ach, unser Gespräch betreffend – ich wollte dazu noch etwas anmerken. Wir haben es uns also zum Ziel gemacht, dem toten Recht“, er stockte, „übrigens nicht nachvollziehbar, jetzt, wo wir in einem vereinten Europa – Sie verstehen? Was also anderswo gestattet ist, und gerade hierzulande – na ja“. An dieser Stelle machte er eine kleine Pause, nahm sein Glas und trank bedächtig etwas vom rubinfarbenen Rotwein, um es vorsichtig wieder auf den Tisch zu stellen, ganz langsam, so, als ob es nie dort ankommen sollte, wobei das Aufsetzen des Glases nicht das geringste Geräusch verursachte. „Sehn Sie?“, sagte er dann, „ganz ruhig da oben. Nun gut! Andererseits aber verdrießt es, dass es genau in diesem Lande mit dem Rest der Kultur nicht so besonders bestellt ist. Wenn ich dabei an die jüngsten Aufführungen in manchen Theatern denke, grauenhaft so etwas! Für so einen Mist gibt man Geld aus! Und dafür muss man sich auch nicht schämen! Und wenn Sie genauer hinsehen, dann sehen Sie lauter Schweinereien, direkt ekelhaft! Schauderhaft das, nicht wahr? Und ich bin Abonnent! Verstehen Sie, was ich meine?“
Der Graf musste husten. „Wissen Sie, Herr Moll, ich hab‘ ja diesen Kerl da nie gemocht, der sich hier für die Serben stark gemacht hat. Ich mein‘, man kann ja in niemanden hineinschauen, nicht wahr, aber fragen wird man ja wohl noch dürfen? Was geht in diesem Menschen vor? Und die Serben sind uns weiß Gott nicht bloß einmal in den Rücken gefallen!“ War das eine ernst gemeinte Frage, dachte Moll, und was sollte er antworten? Er hatte sich mit dieser Sache nie beschäftigt, irgendwo vielleicht diese Rede überflogen, und als Normalverbraucher nichts sonderlich Auffälliges daran finden können, außer Langeweile. Die Zeitspanne, in der er antworten sollte, wurde immer länger. Hatte es überhaupt noch Sinn, zu antworten? Wartete Traunstein tatsächlich darauf, dass er dazu Stellung nehmen sollte? Aber da waren auch die Gedanken an Sybilla Trinks, mit ihrer Art, und ihrem Wahnsinns-körper, dazu bestimmt, nicht aus seinem Kopf verbannt werden zu können. Er fühlte, er sollte jetzt wirklich aufstehen und endlich auf sein Zimmer gehen, für den Anfang sollte es genug sein, an Gesellschaftlichem, und dann sagte er endlich „Aber jetzt wollen Sie womöglich ein Gesetz durchboxen, dass Ihnen erlaubt...“. Traunstein unterbrach ihn: „Schauen Sie, es ist ein Gesetz, das ja doch nie exekutiert wurde, und schließlich sind wir kein Gesangsverein, sondern gewissermaßen – äh, wie Sie schon vorhin angedeutet haben, tatsächlich eine soziale Gruppe. Ja! Es ist ein Privileg, und das ver-pflichtet zur Verantwortung, zu Führungsaufgaben, verstehen Sie?“ „Ja, wollen Sie jetzt Landeshauptmann werden?“, scherzte Moll, aber Traunstein winkte ab und lachte herzlich.
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