„Sie wissen doch, man hat uns doch damals verboten, in der Republik politische und gesell-schaftliche Verantwortung zu übernehmen. Das ist außerordentlich diskriminierend, nicht wahr? Aber in Wirklichkeit sind wir am Zeitgeschehen beteiligt, wie sie und jeder andere auch, und das ist doch der springende Punkt, nicht wahr!“ Moll wurde nachdenklich. „Dann sind Sie also Monarchist?“, fragte er den Grafen. „Also – jedes politische System hat seine Vor- und Nachteile. Schauen Sie sich nur die letzten Jahre demokratischen Fuhrwerkens genauer an – eine Verantwortungslosigkeit sondergleichen! Daher könnte ich mir durchaus eine moderate Kontinuität an der Spitze des Staates vorstellen, die sich nicht nach halber Arbeit einer Legislatur klammheimlich aus der Verantwortung stiehlt, nicht wahr? – und sich gemütlich in ihr wohlfinanziertes Privatleben zurückzieht“, erwiderte der Graf. Moll presste nachdenklich seine Lippen aufeinander. Das hätte er vor Vertretern der wahren Demokratie wohl nicht ungestraft sagen können – die hätten ihm schon ihre Meinung gesagt, und ihn über seine wahre Stellung in der Historie unterwiesen, aber er, Moll? Privatier von Gnaden, was hätte er schon Gewichtiges zu entgegnen? Nichts, wenn er es sich genau überlegte, nichts von Belang. Dann aber, beinahe schon im Begriff zu gehen, fragte er neugierig: „Und? Wer hat in dieser Sache Mitspracherecht?“ Der Graf überlegte etwas, und meinte schließlich: „Nun, nicht ein jeder, nicht wahr? Da bleiben wir ganz unter uns! Ein Unter-schied wird’s wohl noch sein dürfen? Wenn’s keinen Unterschied gäbe, bräuchten wir uns ja dafür nicht einzusetzen, oder?“, lachte er. Moll schüttelte den Kopf.
Da sprang die Tür auf. Rabitsch war wieder da, fröhlich, und unbekümmert, so, als ob nichts geschehen wäre. „Meine Herren!“, trat er selbstbewusst auf und blickte, die Brauen hochgezogen, auf die beiden von oben herab. „Und?“, fragte Traun-stein, „wie geht’s ihrer Gattin? Besser?“ „Ja ja! Überhaupt kein Grund zur Besorgnis. Wir kennen das ja schon lange, nicht? Damit muss man eben umgehen können. Ein kleiner Anfall eben, wie schon so oft. Kalt wäre ihr, hat sie gemeint, lächerlich! Ich bitte Sie, wir haben Mai! Ich habe den Heizkörper abgedreht. Man kann ja in der Nacht überhaupt nicht schlafen, wenn es so warm ist im Zimmer. Außerdem gibt es jede Menge Decken. Und schließlich können wir auf diese Weise so auch etwas zum Energiesparprogramm beitragen, finden sie nicht, meine Herren?“ Er lachte lauthals über seine eigenen Worte. „Aha!“, sagte Moll, und stand auf. Der Graf hatte offensichtlich doch keine Antwort von ihm erwartet, und stierte ganz einfach ins Leere, hin und wieder Unverständliches vor sich hin murmelnd, was Moll erst gar nicht zu deuten versuchte. „Also, ich geh‘ dann, wenn Sie mich entschuldigen?“ Traunstein fuhr zusammen. „Ah, selbstverständlich, ja, natürlich! Wir sehen uns ja!“ Moll blickte kurz in seine traurigen Augen, mit den hängenden Tränensäcken und den unzähligen Falten an Stirn und Wangen. „Schon gehen? Jetzt, wo’s gemütlich werden könnte? Nachtmahl ist kurz davor. Sie kommen doch? Oder essen Sie aus-wärts?“, fragte Rabitsch eilig. Moll drehte sich kurz um. „Natürlich, ja. Wir sehen uns“. Dann lenkte er seine Schritte rasch dem Ausgang zu und begab sich in Richtung Stiegenaufgang.
Der Liebesreigen
Manche müssen einfach tun, was sie tun müssen, dachte er. Diese Antwort war noch für Traunstein bestimmt gewesen, als er die ersten Stiegen zu seinem Zimmer im ersten Stock hochstieg, auf dem roten Sisalteppich, der unter jeder Stiege mit einer Messingleiste gesichert war, um nicht wegrutschen zu können. Was Traunstein damit gemeint hatte – ich bin ja Abonnent? Man musste sich ja nicht jeden Mist ansehen, wenn an der Wichtigkeit einer Aufführung Zweifel aufkamen. Noch dazu, wenn ein Regisseur ein Nichts von einem Stück obendrein auch noch würde- und wei-hungsvoll in unerträgliche Länge zu ziehen vermochte, während die Handlung ohne Licht- und Toneffekte unweigerlich zum Tode verurteilt war, man selbst beinahe schon im Koma lag, diese dann aber doch gerade noch reanimiert worden war, man selbst auch - im besten Fall durch einen Schluck Kognak aus dem wohlweislich mitgebrachten Flachmann, um vielleicht an diesem Abend doch noch irgendwann den bühnenhaft apokalyptischen Höhepunkt des Stückes mitzuerleben, der sich zwar nicht gleich als solcher zeigte, aber es doch irgendwann einmal unweigerlich sein hätte sollen, um kurz danach in rasender Talfahrt inszenatorischen Unvermögens dem heiß ersehnten Ende zuzustreben, und im Anschluss danach sofort irgendwohin auf ein oder zwei Bier zu gehen, um den ganzen Jammer auch gleich für immer und ewig vergessen zu können. Dort konnte man hoffentlich in aller Ruhe darüber nachdenken, dass eines Tages irgendwann einmal ein ganz normaler Arbeitstag sein würde, an dem man sich an Parametern der Normalität täglichen Frustes von der Seelenzerrüttung kultureller Ausschweifungen regenerieren konnte, um hinterher, Gott sei Dank, wieder ein ganz normaler Mensch sein zu dürfen.
Moll sperrte seine Zimmertüre auf und trat ein. Die Luft herinnen war nicht die beste, also ging er zur Balkontür und öffnete beide Flügel. Er trat auf den Balkon hinaus und atmete erst einmal tief durch. Ein wunderbarer Abend, voll von Düften süßer, frischer Blüten. Vor ihm der silberne Schimmer des Sees, über dem sich ein blasser Halbmond zu erheben anschickte. Dahinter dunkelgrün bewaldete Hügelketten, hineinge-malt – hellgrünes, frisches Wiesenpatchwork, ausgewogen verteilt. Den Abschluss bildend – blassblau-violette Gebirge mit Schneeresten in Geröllrinnen, in ihrem Bestreben, als vereiste Adern talwärts fließend erstarrt - daran gehindert worden zu sein. Von Westen her er-hob sich ein weißer Wolkenturm, hoch wie der Nanga Parbat. Im gelb-orange-lila Farbenspiel auf türkisem Grund durchaus nicht bedrohlich, hübscher Gegensatz sogar, der flauschig weiße Wattebausch, mit seinen ständig wechselnden Figuren. Ein aufgeblasener Zwerg, dann ein, Feuerdrache, samt Schweif, jetzt wieder Nichtdeutbares, doch, ja, sitzender Elefant und gleich darauf fliegende Riesenkrake. Moll konnte sich kaum satt sehen. Alleinsein - welch eine Gnade kostbarer, selbstbestimmbarer Abgeschiedenheit.
Er ließ sich in einen Korbsessel fallen und starrte, kaum atmend vor Ehrfurcht über das ihm dargebotene Panorama, wie gebannt auf jenes kosmische Kaleidoskop. Da bemächtigte sich seiner plötzlich ein Gefühl der Freiheit, einer Ahnung, wie er sie als Kind schon empfunden hatte, so neu, so beglückend, in Wirklichkeit nicht greifbar, nicht fassbar, vielleicht nur an spezifischen Nuancen kindlicher Wahrnehmung festmachbar. Ach, jetzt, wo er sich daran erinnerte, überlegte er, wie es gewesen sein könnte, wenn endlich gefrühstückt war, Zähne geputzt, das lästige Frisieren! - man in kurzer Gegerbter, kniebestrumpft endlich in den Garten entlassen worden war, um die Welt da draußen auf eigene Faust zu entdecken, die zwar schon vertraute, und doch stets im Geist neu erschaffene für sich zu erkunden? Den Kopf angefüllt mit Abenteuern kindhafter Phantastereien, die es nachzuvollziehen galt. Wirklichkeiten, die täglich neu erschaffen werden wollten, um dem öden Gleichmut des Alltags zu trotzen, ewige Begleiter auf der ständigen Suche nach Spitzlichtern einsamen Kindseins, auf der Suche nach dem Leben. Wie ein Blitz durchfuhren flüchtige Erinnerungen Molls Ge-hirn und ihm war, als hätte er von Ferne Wetterleuchten bemerkt, aber – er konnte sich auch getäuscht haben. Berauscht verfiel er abermals in unbeschwertes Kindsein. Was war das? Donner etwa? Nein, das war kein Donner. Zwei Abfangjäger, ganz hoch am Himmel, nur zwei Punkte. Übungsflug - dachte Moll. Klar, unbewohntes Gebiet über den Bergen. Kurz vor der Ablöse der „Neuen“! Umstrittene Notwendigkeit, den Staatsvertrag erfüllen zu müssen. Lieblingsspielzeug selbstverliebter Militärs! Zankapfel profilierungssüchtiger Politiker! Steuerfressende Ungeheuer! Verdammt laut waren sie!
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