1 ...6 7 8 10 11 12 ...32 »Aus alledem entnehme ich, dass Sie …«
»…an Gott glauben? Vielleicht glaube ich eher an die Kraft des Guten.«
»Welcher Art sind diese – nun, ja, sagen wir mal tieferliegenden Widersprüche?«
»Die gesellschaftliche Entwicklung ist gesetzmäßig nicht bestimmbar. Zu viele nicht auf Regeln bestimmbare Faktoren. Eine Ordnung, eine naturgesetzliche Entwicklung vom qualitativ Schlechteren zu einem höherwertigen Gesellschaftszustand ist nirgends nachweisbar. Die Parteiendiktatur ist der Totengräber der sozialistischen Gesellschaft. Und das Menschenbild des dialektischen Materialismus ist eine lächerliche Simplifikation.«
»Damit gingen Sie auf offenen Konfrontationskurs?«
»Ja, zunächst einmal beschwor man mich, da ich ein Vertreter der moralischen Aspekte des Kommunismus sei, der sich für die Befreiung der unterdrückten Klassen einsetzte:
Abweichlertum und Skeptizismus könnten auf die Dauer keine Weltanschauung der Völker sein. Sie töteten die Kultur und verhinderten jeden Fortschritt. Ich erwiderte: Die Person sei nicht allein Produkt und Funktion der Gesellschaft. Sie sagten: Darüber könne man reden. Der Marxismus habe auch seine individuellen Seiten. Als sich zwei Zirkel an meiner Universität bildeten, bot man mir eine kleine Datscha und den Posten des Bürgermeisters in einem Dorf bei Starachowitze an, von Warschau und Krakau etwa gleich weit entfernt.«
»Man wollte Sie aufs Land abschieben?«
»Sie nannten es eine ‘zuvorkommende Regelung’«, nickte Kofler, »und deuteten an, ein solches Angebot zeuge durchaus vom Wohlwollen der Partei.«
»Wie kamen Sie zur Gewerkschaftsbewegung?«
»Obwohl ich mit ihren Gedanken sympathisierte, war nicht ich es, der den ersten Schritt unternahm. Man trat an mich heran. Ich wurde einer ihrer Berater. Aber nicht für sehr lange. Eines Tages warf man mir die Scheiben ein, verwüstete meinen Garten und zündete mein Auto an. Damals begriff ich, dass ich in ihren Augen zu weit gegangen war, und ich kehrte an die Universität zurück.«
»Sie übernahmen den Lehrstuhl für Sozialpsychologie.«
»Weil ich hoffte, man könne Ideen auch auf andere, weniger augenfällige Weise unters Volk bringen.«
»Und man ließ Sie lehren?«
»Ja … anfangs ließ man mich gewähren.«
»Gut, schließen wir dieses Thema für heute ab.« Ich nahm eine Fotografie aus der Mappe, die vor mir lag. »Gestern konnte ich beobachten, dass Sie Rechtshänder sind? Sie schrieben an Ihrem Buch.«
»Stimmt«, nickte er.
»Auf diesem Foto – es zeigt Sie, wie Sie Ihre Ernennungsurkunde an der Krakauer Universität gegenzeichnen – sind Sie Linkshänder.«
Kofler nahm das Blatt und betrachtete es. Für einen Agenten, der sich durchschaut fühlen musste, hatte er sich erstaunlich gut in der Gewalt. Immerhin schützte er Verblüffung vor. Er musterte die Aufnahme wieder und wieder und schüttelte den Kopf, schließlich nahm er seine dünne Drahtbrille heraus.
»Merkwürdig«, sagte er. »Das überrascht mich in der Tat. Die Aufnahme muss aber fünf Jahre alt sein.«
Es war deutlich zu sehen, dass er mit der linken Hand unterschrieb. Das Bild war von der linken Seite aufgenommen. Seine rechte Hand war verdeckt. Es gab eine Schrift im Hintergrund, die bewies, dass die Schwarzweißaufnahme nicht, wie man hätte argwöhnen können, spiegelverkehrt vom Negativ kopiert worden war.
»Haben Sie dafür eine Erklärung?«
»Ich bin etwas … überrascht«, erklärte er und hob den Kopf.
Ich fuhr hinunter in die Tiefgarage und verließ sie durch den Ausgang im Nachbarhaus. Dann ging ich über den Oranienplatz und ein Stück den Legiendamm entlang. Auf der rechten Seite lag die kleine Pension, in der Pysik sich erschossen hatte. Ich kannte das Haus und das Fenster. Sein Zimmer war in der zweiten Etage. Ein schlichter, glatter Nachkriegsbau. Ich blieb manchmal dort stehen und sah zu dem Fenster hinauf, und das nicht nur, wenn ich auf dem Weg zur Telefonzelle war.
Pysik hatte eine großkalibrige alte Schwarzpulverwaffe benutzt, ein Sammlermodell. Ich stellte mir vor, wie er auf der Bettkante saß, erst das Pulver hineinschüttete, dann die Bleikugel nachstopfte, das Zündhütchen aufsetzte und sich den Lauf in den Mund hielt …
Mit ihrem Knall hatte alles seinen Anfang genommen. Oder sollte ich es das Ende nennen?
Man war der Frage nachgegangen, wieso ein relativ mildes Urteil – er hatte zweieinhalb Jahre bekommen – und ein vergleichsweise harmloser Fall (nicht einmal ein Gewaltverbrechen) zum Selbstmord führen konnten. Pysik war Assistenzarzt in einem Westberliner Krankenhaus gewesen – und er hatte mir Valessa ausgespannt .
Zu jener Zeit trieb in den Bezirken Kreuzberg, Neukölln und Tempelhof ein Scheckbetrüger sein Unwesen. Er arbeitete mit verschiedenen Euro-Scheck-Karten und nachgedruckten Scheck-Formularen. Die Summe, um die er kleinere Geschäftsinhaber und Unternehmen geprellt hatte, ging in die halbe Million.
Es existierten gute Beschreibungen, aber der Täter sah – wie Pysik – von der Statur und vom Gesicht her unauffällig aus, er war eine Dutzenderscheinung. Außerdem wechselte er ständig Perücken, Brillen und Bärte. Eines Tages erhielt ich einen anonymen Anruf.
Die Stimme – eine Frauenstimme (womöglich eine eifersüchtige Freundin) sagte:
»In Doktor Pysiks Wohnung finden Sie Hinweise auf den Scheckbetrüger von Kreuzberg, Scheckkarten und dergleichen.«
Ich ließ Pysik zunächst beschatten, um ihn auf frischer Tat zu ertappen. Doch er musste den Braten gerochen haben: vom selben Tage an hörten die Scheckbetrügereien auf.
Pysik hatte sich zu der Zeit krank gemeldet, er verließ das Haus nur noch, um Valessa zu treffen. Ich muss gestehen, dass der Verdacht mir nicht ungelegen kam. Wen lässt es schon gleichgültig, wenn ein Rivale plötzlich tatverdächtig ist?
Doch nicht im Traum hätte ich daran gedacht, daraus Profit zu schlagen!
Er hatte Valessa teure Geschenke gemacht. Er fuhr ein weißes Mercedes-Kabriolett. Wir hatten festgestellt, dass ein weißer Mercedes auffallend oft am Tatort beobachtet worden war, nicht vor der Geschäftstür, aber in Seitenstraßen und auf Parkplätzen. Daraufhin ließ ich Pysiks Wohnung durchsuchen.
Es war ein voller Erfolg. Wir fanden Scheckkarten, Blankoschecks und eine Nummern-Druckmaschine, jedoch weder Geld noch Waren. Pysik musste sich ein Lager und ein Geheimkonto eingerichtet haben.
Er gab es auch vor Gericht nicht preis, sondern leugnete seine Schuld bis zuletzt. Eine Gegenüberstellung ergab wegen der Verkleidungen des Täters keine eindeutige Gewissheit. Mir genügten die übrigen Indizien zur Anklageerhebung. In der kurzen Zeitspanne zwischen der Urteilsverkündung und dem Haftantritt beging Pysik Selbstmord. Als Arzt war er ruiniert, als Mensch offenbar tief verstört.
Und dann brach plötzlich ein Presserummel über mich herein, der seinesgleichen suchte: Der Scheckbetrüger hatte seine Arbeit fortgesetzt! Reporter gingen den Einzelheiten der Beweisaufnahme nach.
Sie entdeckten, dass ich es – zugegeben: im Eifer des Gefechts und in einer gewissen Voreingenommenheit gegen Pysik – versäumt hatte, Schichtpläne des Assistenzarztes mit weit zurückliegenden Auftritten des Scheckbetrügers zu vergleichen. Die Zeiten stimmten nicht überein. Selbst die Verteidigung hatte das übersehen.
Zu allem Überfluss fand man heraus, dass die Nummern der Schecks nicht mit Pysiks Nummern-Druckmaschine hergestellt worden waren. Sie besaß zwar die gleiche Schrifttype, aber eine Vergrößerung der Druckbilder ergab Unterschiede. Wegen des Verdachtes der Voreingenommenheit aus persönlichen Motiven und schweren Versäumnissen enthob man mich meines Amtes.
Der Verdacht – wenn auch unausgesprochen – ich hätte das Belastungsmaterial aus Eifersucht selbst in Pysiks Wohnung geschmuggelt, stand wie ein Monolith zwischen mir und meiner Zukunft.
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