Vor allem, wenn er meine Lektüre herumliegen sah:
»Lesen Sie nicht diese gottverdammten Narren«, sagte er. »Dostojewskij, Rilke, Kafka … das sind alles Verrückte, auf die eine oder andere Weise. Kein normaler Mensch kann sich so etwas zu Gemüte führen, ohne Schaden an seiner Seele zu nehmen. Ich werde Ihnen ein festes weißes Stück Fleisch aus der Datenabteilung beschaffen, das bringt Sie wieder auf die Beine.«
Er wollte nicht, dass ich mit Freunden oder Bekannten verkehrte, deshalb verschaffte er mir diese Mädchen. Am liebsten hätte er mich in einer Mönchszelle gehalten – oder im Gefängnis, völlig isoliert von allen Außenkontakten: der Idealfall nahe am Nullpunkt des Risikos. Nach einer gewissen Frist verschwanden sie, wo sie hergekommen waren, in der Rechnungsabteilung, der Datenbank oder im inneren Abwehrdienst.
Ich wusste nie genau, was er ihnen erzählte. Irgendwie brachte er sie dazu, sich für Staat und Vaterland zu opfern. Er musste ein großer Geschichtenerzähler sein. Sie hatten mich schon für alles mögliche gehalten: einen russischen Überläufer, den Botschafter der DDR in Venezuela, einen vom KGB gejagten Trotzkisten – und einmal musste er mich als schwulen Denunzianten ausgegeben haben, dem man es mit gleicher Münze heimzahlen wollte: durch ein Bild mit einer Frau im Bett an seinen Geliebten.
Dabei hatte ich immer das Gefühl, F. habe mir gegenüber ein schlechtes Gewissen; als sei er dafür verantwortlich, dass Valessa sich mit einem türkischen Botschaftsangestellten nach Izmir abgesetzt hatte (ich war nur ein knappes Vierteljahr mit ihr verheiratet gewesen). Vielleicht wollte er mir auch über die Schmach der Entlassung hinweghelfen. Vielleicht war es eine Art väterlicher Fürsorge. Obwohl ich F. das kaum zutraute. Allerdings erschien mir diese Sorte Staatsdiener im Kern nicht immer so schlecht, wie behauptet wurde.
Natürlich gibt es auch bei ihnen das Gefühl, es besser machen zu können oder zu sollen, und das Wissen um die absehbaren Folgen ihrer Arbeit bereitet ihnen Unbehagen. Denn wie viel lässt sich voraussehen und wie viel erfahren wir schon über die Tragweite unserer Handlungen?
» Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille «, war der Leitspruch aus Kants Ethik, den Kofler seinem ins Englische übersetzten Werk vorangestellt hatte.
Ich nahm an, dass es sich um das übliche Flickwerk am sozialistischen System handelte. Eine kleinere Verbesserung hier, eine Korrektur dort. Gerade so viel Änderungen, dass es der herrschenden Lehre zuwider lief, im Westen aber als »Dritter Weg« durchgehen konnte und eine Menge Junger Leute auf die Straße bringen würde. Sie schienen ihr Spiel sehr geschickt zu spielen – und ich fragte mich, was dran war an F.s Behauptung, dass der Osten seine Weltherrschaftsansprüche niemals aufgeben würde. Und dass alle Kooperationsbereitschaft und Entspannungspolitik darüber nicht hinwegtäuschen durfte.
Plötzlich fiel drüben im Grenzstreifen das Licht aus … die Bogenlampen erloschen, sie flackerten noch einmal kurz auf, dann waren sie ebenso dunkel wie die Wachturmfenster.
Ich sah ungläubig auf die Mauer und die Zäune hinter den spanischen Reitern, die sich nur noch schemenhaft abzeichneten. Aus der Dunkelheit kam Motorengeräusch. Wir hatten eine von Wolken verhangene Mondsichel. Im Wachturm wurde die Notbeleuchtung eingeschaltet. Durch die Fenster sah ich den Schein von Taschenlampen umherhuschen. Was für eine Gelegenheit! dachte ich. Wie viele wären jetzt durch die Dunkelheit gehastet, wenn sie davon gewusst hätten? … mit einigen notdürftig zusammengerafften Habseligkeiten, Hochhauswohnungen zu billiger Miete, Eisenhüttenkombinate und volkseigene Betriebe hinter sich lassend – ebenso das russische Wassereis auf dem Alexanderplatz, den Kaffee-Ersatz der HO-Läden und die Zeitungen, die nur druckten, was erlaubt war. – Oder war das eine Illusion? Hatte der Westen seine Anziehungskraft längst eingebüßt?
»Geht denen drüben die Energie aus?«, erkundigte sich Kruschinsky, der neben mir aufgetaucht war.
»Stromausfall …«
»Nicht möglich«, stellte er überrascht fest.
»Das ist kein Vorrecht des Kapitalismus«, sagte ich.
»Klettert da nicht einer über die spanischen Reiter?«, fragte er und trat näher an die Doppelglasscheibe.
Ich sah durch das Nachtglas. »Ein streunender Hund.«
»Was ist denn passiert?«, fragte Kofler hinter uns.
Er stand in der Tür, ein Blatt Papier und einen Stift in der Hand. Die dünne Drahtbrille hing ihm weit vorgerückt auf der Nase. »Was kann das zu bedeuten haben?«, fragte er im Näherkommen und sah durch das Fenster hinunter.
Ich zuckte die Achseln. Gelegenheit für den Kakadu , dachte ich. Einen, der von Westen nach Osten flog. Doch in dieser Beziehung war ich kein Eiferer. Das System drüben gewann beinahe menschliche Züge, wenn man seine Schwächen sah. – Kurz darauf strahlten die Bogenlampen mit unverminderter Helligkeit auf – der ganze Spuk hatte kaum drei Minuten gedauert –‚ und der streunende Hund, ein schwarzer Schäferhundbastard, floh im Zickzack aus dem Scheinwerferkegel des Wachturms …
»Na also«, sagte Kofler. »Die Technik siegt.«
Er steckte sich den Stift hinters Ohr und kehrte in sein Zimmer zurück.
Dann sah ich den grünen Kastenwagen mit der Antenne und der eigentümlichen Apparatur auf dem Dach.
Er fuhr sehr langsam in Richtung Stadtzentrum, Alexanderplatz, davon – so als lege er es darauf an, keine schlafenden Hunde zu wecken. Seine Scheiben waren undurchsichtig. Das Gefährt kam mir nicht ganz geheuer vor. Hatten sie den Strom absichtlich ausgeschaltet? Irgend etwas von Messungen schwante mir. Der L.D.A.! Sollte man F. benachrichtigen? Ich hatte noch sein verlorenes Notizbuch. Beides würde ihn womöglich interessieren. Dazu ist auch morgen noch Zeit, dachte ich. Wir waren ohne Telefonverbindung. Aus Sicherheitsgründen hatte man darauf verzichtet.
Als ich in mein Zimmer ging, nahm ich das Notizbuch aus dem Schrank. Es war in schwarze Kunststoff-Folie eingebunden. Ich legte mich damit auf das Pritschenbett in der Ecke. Vorher hatte ich nur einen flüchtigen Blick hineingeworfen. Diesmal erwischte ich die erste Seite.
Über dem Kodetext aus Zahlen und Buchstaben stand in schräger Handschrift mein Name.
Wir setzten uns ohne Umstände an den Rauchtisch in seinem Zimmer. Kofler schien ausgiebig gefrühstückt zuhaben. Dem Spülgeschirr nach zu urteilen für zwei. Offenbar war er arglos und bei guter Laune.
»Sie traten dreiundsechzig aus der Partei aus. Warum, wenn ich fragen darf?«
»Nun, man ließ mir keine andere Wahl. Eine Reihe von Komplikationen, die mehr das menschliche Verhältnis betrafen – nicht das System.«
»Sie traten aus persönlichen Gründen aus?«
»Ja. Ich geriet mit einigen Leuten in Konflikt. Heute betrachte ich es als eine ziemlich überzogene Reaktion.«
»Was war der entscheidende Grund für Sie, das Ressort zu wechseln. Von der Kriminalistik zur Soziologie und Sozialpsychologie ist es kein kleiner Schritt.«
»Nein, sicher nicht. Anders als bei meinem Parteiaustritt einige Jahre zuvor bewogen mich dazu theoretische Gründe. Ich entdeckte, wie wenig die gegenwärtige Gesellschaftstheorie den Realitäten angemessen ist.«
»Sie meinen die dialektisch-materialistische, wenn ich Sie recht verstehe?«
»Es gab Widersprüche, die nicht durch Schönheitskorrekturen zu beseitigen waren. Wissen Sie – «, er dachte nach und lächelte, »das Ganze ist im Grunde nichts weiter als eine Art romantische Welt- und Gesellschaftsschau , wonach es den Menschen in ein gottloses und feindlich gesinntes Universum verschlagen hat, das er nun wie Prometheus in ewiger Anstrengung und heroischem Trotz durch Arbeit und Revolution verwandeln soll – allein durch Erkenntnis und durch die Kraft seines Willens. Dabei handelt es sich weniger um Wissenschaft, als um säkularisierte Prophetie, eine atheistische Religion. Aber die wirklichen Widersprüche liegen natürlich tiefer.«
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