Wir lebten zwei Wochen lang in einer winzigen Mansardenwohnung voller gehäkelter, gefärbter, selbst bemalter, geklebter, gestanzter, gezeichneter Dinge und unzähliger Bücher, deren Inhalt für sie ebenso wahr zu sein schien wie die üblichen Lügen, denen wir glaubten.
Wenn wir rauchend auf der Couch lagen, versuchte ich ihr manchmal Dinge weiszumachen, die dazu angetan waren, ihr konfuses Weltbild noch weiter zu verunsichern. Was, zum Beispiel genau, ließe sie eigentlich glauben, dass diese ganze verdammte Wohnung mit ihrem Selbstgehäkelten mehr sei als ein Bild, das sich in ein bloßes physikalisches Substrat auflöse, sobald man die Augen schließe oder um die Straßenecke verschwinde?
Aber ihre Sorgen waren anderer Art. Zu jener Zeit hatte sie gerade Bölls Ansichten eines Clowns gelesen und einen tiefen Hass gegen den rheinischen Katholizismus entwickelt. Sie nahm die Literatur für Realität, und wenn sie in Bonn gelebt hätte, wäre sie womöglich nachsehen gegangen, ob der Clown mit seinem weißgeschminkten Gesicht tatsächlich auf der Bahnhofstreppe saß und Gitarre spielte.
Ich versuchte ihr klarzumachen, dass es, wenn überhaupt, höchstens einige aufschlussreiche Parallelen gab und dass man die Details nicht allzu ernst nehmen durfte. Sie sah es auch ein, einfältig wie sie war (sie sah fast alles ein, wenn es nur im Brustton der Überzeugung vorgetragen wurde); doch als sie Jongs Angst vorm Fliegen las, erklärte sie, die Autorin (und nicht etwa Isadora Wing, die Ich-Erzählerin) sei ein Schwein und so phallozentrisch wie nur irgendwer (ich weiß nicht, wo sie das Wort aufgeschnappt hatte), und das Ganze sei lediglich ein PR-Trick und ein billiger Henry-Miller-Aufguss.
Vielleicht hatte sie recht, aber es erschreckte mich doch, mit welcher Leichtigkeit sie Literatur und Wirklichkeit verwechselte.
Das machte sie zu einem leichten Opfer für F.s Erzähltalent. Den ostdeutschen Diplomaten nahm sie mir ohne weiteres ab. F. war schließlich die Autorität in dem Laden und ihre Wahl durch ihn eine Auszeichnung. Es war eine der großen Krankheiten, an der wir alle litten: ständig Wirklichkeit und Vorspiegelung zu verwechseln. Natürlich um so mehr, als wir glauben wollten, was wir uns vorlogen.
Meine Aufgabe beruhte in nichts anderem, als Realität und Erfindung zu trennen.
Wahrscheinlich war es das, was mich daran gereizt hatte, als ich weder die Verteidiger- noch die Richterlaufbahn einschlug, sondern Staatsanwalt wurde: die menschliche Tragödie zu entschleiern, zu entwirren , genauer gesagt. Denn überall war Nebel.
Was genau das heißt? Ich glaube, um dies besser zu verstehen, muss man eine Zeit lang Wissenschaftstheorie und Rechtwissenschaft studiert haben. Und besser noch: sprachanalytische Philosophie.
Die ganze Demokratie – ich war weiß Gott nicht gegen sie – war ein Kompromiss und ein Bluff, der auf der Vorspiegelung zweckdienlicher politischer Fiktionen beruhte.
So abgegriffen das Wort vom »politischen Welttheater« auch sein mochte, es traf die Verhältnisse im genauesten und wahrsten Sinne, hüben wie drüben. F. gegenüber hätte ich diesen Mangel an ideologischer Solidarität und Überzeugung nie zugegeben.
Einen Zipfel der Wahrheit zu erhaschen, war ein Vergnügen, das ihn vermutlich so wenig interessierte wie den Marxisten die Widersprüche des DIAMAT. Ich wurde den Verdacht nicht los, dass er ernsthaft glaubte, die Ost-West-Malaise ließe sich durch »richtiges« Handeln überwinden.
Dass es so etwas wie richtiges Handeln gab – diesen Glauben musste ich bereits im Alter von vier Jahren verloren haben, als ich einem Spielkameraden im Sandkasten von meiner Limonade abgab, die ich zu Hause stibitzt hatte, und er nach dem ersten Schluck entdeckte, dass es sich um Trichlorethan handelte, ein Reinigungs- und Lösungsmittel …
Als ich den Fahrstuhl verließ und die Wohnung betrat, reichte mir Kruschinsky eine Nachricht aus dem L.D.A.
»Eben eingetroffen«, meinte er. »Sie stimmt mit den Daten überein, die ich aus der Zentrale erhalten habe. Übrigens scheint sich das Ding hier heißzulaufen.« Er klopfte gegen die Blechwand des Datenaustauschers. »Wahrscheinlich ist ein Kühlaggregat ausgefallen.«
»Dann schalten Sie den Apparat um Gottes willen ab«, sagte ich. »Es ist eine Sicherung gegen unbefugtes Öffnen eingebaut, wegen der technischen Neuerungen. Hat man Ihnen das bei der Ausbildung nicht gesagt?«
Kruschinsky musterte mich überrascht – und zuckte die Achseln. »Ich bin ermächtigt, die Verkleidung abzuschrauben und die Frequenzen anhand der Skala nachzustellen. Von dem übrigen Zeug soll ich die Finger lassen.«
Ich versuchte den Stecker aus der Wand zu ziehen.
»Vorsicht – «, warnte er. »Man hat mir gesagt, das sei nicht gut für den Apparat. Er brauche auch im Ruhezustand seinen Betriebsstrom. Außerdem wären wir dann nicht empfangsbereit.«
»Ich scheiße auf Ihren Apparat!«, sagte ich. »Das Ding wird abgeschaltet.«
»Wie Sie wollen.«
Ich zog den Stecker aus der Dose. Gleich darauf gab es einen schrillen Läuteton, der sich anhörte, als brause die Feuerwehr durchs Zimmer – nur nervtötender .
Kofler kam aus dem Raum. »Was ist denn passiert?«, fragte er verdutzt. Ich schob den Stecker zurück in die Wandsteckdose. Augenblicklich verstummte das Läuten. Die Explosion, wenn das Ding wegen Überhitzung hochging, würde auch nicht viel lauter sein.
»Eine technische Panne. Gehen Sie nach unten und verständigen Sie F.«, sagte ich, zu Kruschinsky gewandt. »Er soll einen Techniker herüberschicken. Und wir, Professorchen, setzen uns an den Tisch und unterhalten uns ein wenig über Ihre Vergangenheit.«
»Ich würde gern an meinem Buch weiterarbeiten«, wandte Kofler ein.
»Verschieben Sie‘s auf später.«
Er musterte mich von der Seite, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich kopierte seinen Kopftick und ging voran (manchmal konnte ich das gleiche Ekel sein wie F., und mir war klar, dass es sich dabei um eine Art Flucht nach vorn handelte – Vorwärtsstrategie –‚ wenn etwas gegen meine Neigung und mein Gefühl ging. Ich hatte ein ungutes Gefühl, den Mann zu verhören, so etwas, wie Vorahnung.
Als wir in sein Zimmer kamen, sah ich, dass ein Laurel & Hardy -Film lief. Kofler hatte eine der Kassetten in das Videogerät eingelegt.
So dringend konnte es mit der Arbeit also nicht sein. Er machte keine Anstalten, den Film auszuschalten, als wir uns setzten, obwohl die Fernbedienung vor ihm lag.
»Also gut, machen wir da weiter, wo wir aufgehört hatten. Wie war Ihre ideologische Position – ich meine, die Auffassungen, die Sie öffentlich vertraten –‚ ehe man Sie in die DDR abschob?«, fragte ich. »Was warf man Ihnen vor?«
»Nun – zunächst sprach mir das Professoren-Kollegium einen Verweis aus. Man unterstellte meinem Zirkel, er sei gewalttätig.«
»Wie übrigens auch hier im Westen. Man munkelt von einer Verbindung zum terroristischen Untergrund.«
»Davon weiß nicht nichts.«
»Wir könnten Ihnen Beweismaterial vorlegen.«
»Ich besitze keinen Einfluss auf jene Gruppen im Westen, die unter meinem Namen einen sogenannten ‘Dritten Weg’ ins Leben rufen wollen«, erklärte er ärgerlich. »Vermutlich handelt es sich um ein Missverständnis, eine Fehlinterpretation meiner Lehre.«
»Oder geben Sie sich nur als Taube, weil Sie befürchten, man könne Ihnen sonst die Einreise verwehren? Dieser Verdacht wäre unbegründet. Wir sind ein freies Land. Es gibt einen Rechtsanspruch auf politisches Asyl.«
»Die Öffentlichkeit wird meine Einreise erzwingen«, sagte er. Zum ersten Mal glaubte ich so etwas wie den Originalton-Ost aus seiner Stimme herauszuhören. Gegen den fast liebenswert-großväterlichen Eindruck, den er vorher gemacht hatte, wirkte es wie eine kalte Dusche. Falls es sich überhaupt um Kofler handelte, war er eine schillernde Persönlichkeit.
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