Dann überlegte er einen Moment, bevor er weitersprach. Sein rundliches Gesicht drückte Unruhe aus. Er trommelte wieder leicht mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte. Das war ein Zeichen hoher innerer Anspannung.
„Was ich euch jetzt sage, ist streng geheim. Die USA und China wollen, dass ihr möglichst schnell auf den Mond kommt. Am besten noch heute, denn derjenige, der dort landet, kann auch das Recht für sich beanspruchen, alles zu besitzen, was es dort zu finden gibt. Der Mond ist international geschützt. Er gehört der Menschheit, aber das gilt nicht für das, was nicht schon immer zum Mond gehört hat. Diese fremde Technik ist dort wohl irgendwann hingebracht worden, unterliegt also nicht dem Abkommen über den Mond.“
„Dann wollte die CALCAG sich also diese Rechte sichern“, stellte Tim fest. „Aber muss das nicht ein Mensch sein, der Besitzansprüche erheben kann?“
„Das ist ungeklärt, und daher hätte die CALCAG sich immer mindestens einen Teil der Technik einverleiben können. Das ist das moderne Raubrittertum! Außerdem fürchten wir, dass es dort auch unbekannte Waffen geben könnte, die dann in die falschen Hände fallen könnten. Das kann nur verhindert werden, wenn ihr als Erste dort landet. Nun wisst ihr, welcher Druck auf uns lastet. Wir müssen den Starttermin einhalten, und diesmal darf es nicht wie bei der NASA eine Raketenpanne geben.“
Jetzt erst stellte er fest, dass sich Ling besonders gekleidet hatte. Er sah die Drachenmuster in grüner und goldener Stickerei, lächelte zum ersten Mal und wandte sich Ling zu.
„Als ich meine Frau kennen lernte, trug sie auch ein solches Kleid. Nicht ganz so kostbar wie dieses, aber so ähnlich. Es sieht wunderschön aus. Ling. Leider wirst du damit nicht zum Mond fliegen können, obwohl das sicher jeden Außerirdischen beeindrucken würde!“
Ling errötete etwas. Es war selten, dass Wu-Shi Komplimente machte. Tim ärgerte sich, dass es nicht von ihm selbst gekommen war.
„Einer Panne, die der CALCAG sehr gut gepasst hat, wie es scheint“, stellte Ling fest und griff den Faden des Gespräches wieder auf. „Aber das ist eine Vermutung, die sich nicht beweisen lässt. Konzentrieren wir uns auf den Start. Tim und ich sind bereit, wenn die Technik es auch ist. Wir kennen das Risiko, das wir eingehen. Aber wir verlassen uns auf die Logik, die in den Zahlen steckt.“
Wu-Shi nickte zufrieden. Das hatte er erwartet.
„Wir bleiben im Plan und warten die Ergebnisse der Technik ab. Ich bin da guten Mutes. Geht noch einmal das volle Programm durch, absolviert jeden Abschnitt im Simulationsraum, bis ihr ihn im Traum beherrscht. Es darf nichts schief gehen. Nehmt Kontakt zu den Physikern auf, die sich mit eurem Wellenproblem beschäftigen.“
Damit war das Gespräch beendet. Tim und Ling mussten zum Training.
Der Verband aus Landefähre und Kommandokapsel löste sich wie vorgesehen aus der Trägerrakete, drehte noch zwei Runden um die Erde und schoss dann von mehreren Treibwerken beschleunigt auf die Bahn, die zum Mond führte. Ling und Tim saßen angeschnallt in der Kommandokapsel, obwohl sie nicht viel zu kommandieren hatten. Längst hatten Computer alle notwendigen Arbeiten übernommen, und so konnten die beiden die Weite des Universums, die sich vor ihnen ausbreitete, voll genießen. Das Gefühl der Schwerelosigkeit war überwältigend. Nur dann und wann erfolgte ein Rückruf von der Erde aus.
„In Cape Canaveral hätten sich die Massen gedrängt, um den Start zu sehen“, bemerkte Tim und räkelte sich in seinem passgenauen Drucksessel. „In China wäre das wohl genauso, wenn die Behörden es zuließen.“
„Alles hat seine Vorteile und Nachteile“, meinte Ling und drehte sich zu ihm. Durch das Visier des Helms sah er die kurzen Haare, die sie nun hatte. Ein Pferdeschwanz war im Weltraum wohl auch nicht so leicht unter dem Raumhelm zu verstecken. Also hatte Ling ihre Haare beim Friseur geopfert. Sie sollten aber nicht im Abfall landen, sondern zu einer Perücke verarbeitet werden, die dann an eine arme Krebspatientin kostenlos abgegeben werden sollte. Selbst in diesen kleinen Dingen war Ling konsequent, und Wu-Shi hatte ihr versichert, dass es auch so geschehen werde.
„Die Abgeschlossenheit unseres Raketengeländes macht es eigentlich unmöglich, den Flug zu sabotieren. Das Personal wird ständig überprüft, und sicher gibt es mehr Kontrollen, als jeder weiß. Immerhin haben wir auf diese Weise einen sicheren Start erlebt, wenn er auch in den oberen Atmosphärenschichten ein wenig uneben war. Die Übertragung für die Massen in den USA und dem Rest der Welt, China eingeschlossen, war wohl von exzellenter Bildqualität, nehme ich an.“
Tim stimmte zu. Er hatte insgeheim befürchtet, dass auch an ihrer Rakete in letzter Minute ein Fehler aufträte, der den Flug sofort beenden würde. Doch alles verlief unspektakulär normal. Das gewaltige Dröhnen des Starts, die Kräfte, die gegen die Brust drückten und das Atmen schwer machten, die unbeholfenen Anzüge und das Festgeschnalltsein gehörten zum Alltag der Astronauten. Bisher hatten sie es nur in Simulatoren erlebt, aber nun in der Realität war alles noch eine Stufe schwerer, gefährlicher, geheimnisvoller.
„Was es mit der kleinen Kapsel auf sich hat, die von der CALCAG um den Mond geschickt wurde, ist immer noch nicht klar. Ich glaube nicht, dass es nur eine Erkundungskapsel ist. Was soll auf der Oberfläche des Mondes noch zu erkunden sein?“
Tim wollte das Gespräch fortsetzen, als die Erde sich meldete.
„Hier Flugkontrolle. Ihr könnt euch ab sofort frei im Gefährt bewegen. Kontrolliert die Landekapsel nach Plan. Überprüft die Landeautomatik. Anschließend aktiviert ihr das Lasergerät und kontrolliert die Frequenzen. Wu-Shi schlägt vor, die erste Sequenz schon am Übergangspunkt X zur Mondanziehung zu senden. Er meint, es könnte nicht schaden, das zu tun. Anschließend stellt ihr auf Automatik, damit in den vorgesehenen Zeitabschnitten das Signal auf den Landepunkt ausgerichtet und gesendet werden kann. Löst die Halterungen jetzt!“
Ling bestätigte und gab den Befehl zum Lösen der Halterungen. Die Gurte, die sie beim Start fixiert hatten, lösten sich automatisch und zogen sich sofort zurück. Ein kleiner Ruck mit den Armen genügte. Beide schwebten in der Schwerelosigkeit des Alls zur Landefähre. Die Überprüfungen folgten einem strengen Plan, den sie genau einhalten mussten. Ein Kontrollcomputer sandte jedes Ergebnis zur Erde, wo es noch einmal überprüft wurde. Nach fast drei Stunden waren die beiden mit der Arbeit fertig. Tim musste immer wieder zu Ling sehen, denn sie sah mit den kurzen Haaren unbewohnt aus. Doch er fand, dass es ihr gut stand. Sie bemerkte es, lächelt aber nur und fuhr sich mit einer leichten Geste über das Kinn. Tim wusste, dass sie auf seinen Bart anspielte. Doch Rasieren im All ist eine schwierige Angelegenheit. Er zog es vor, das nur alle zwei Tage durchzuziehen. Ling musste ihn eben so ertragen!
„Flugkontrolle, hier Grav-Mission 1“, meldete sich Ling. „Wir haben die Überprüfungen abgeschlossen und kehren in die Kommandokapsel zurück.“
Vorsichtig schwebten sie zurück, darauf bedacht, nirgendwo anzustoßen. Sie zogen sich in den Sessel und nahmen nur den kleinen Bauchgurt zur Hilfe. Ling sah zu Tim und dem Foto seiner Eltern, das nun auf einem kleinen freien Platz angeklebt war. Sie kannte seine Geschichte. Doch sie selbst wollte kein Foto mitnehmen. Sie trage ihre Erinnerungen im Herzen, nicht auf Papier, hatte sie Tim erklärt. Sie drehte den Kommunikator etwas lauter und verminderte dann das Rauschen im Hintergrund.
„Richtet den Laser zur Kontrolle erst wieder auf die Erde aus“, kam die Anweisung aus Hainan. „Wir überprüfen das Signal. Anschließend automatische Rückführung und Ausrichtung auf MATRA.“
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